An einem heißen Tag in einer heißen Stadt führte der Vater die Familie auf einen Platz zu einem Reiterdenkmal, das nicht irgendeines von vielen war. Daneben lag ein großer Springbrunnen, in dem Erwachsene und Kinder plantschten, spritzten, schrien. Die Familie stand vor dem reglosen Pferd und dem reglosen Reiter. Vater fragte, was fällt euch daran auf?
Katrin setzte an, die Täubchen haben dem Mann –
Vater winkte ab. Was die Tauben sich erlauben, möchte ich nicht wissen. Seht euch das Pferd an! Bewegt es sich, steht es still? Galoppiert es wie die Indianerpferde oder trabt es? Muss ich euch die Würmer aus der Nase ziehen?
Die Sonne brannte.
Jutta bestimmte die Gangart, Vater nickte. Das Pferd trabt, so muss es sein, denn Stillstand vermittelt Schwäche, Bewegung dagegen Stärke. Wie viele Beine hebt das Pferd?
Eins vorn, eins hinten, sagte Jutta schnell, damit man weiterkam, zum Brunnen.
Dann steht das Denkmal also auf zwei Beinen?, fragte Vater.
Jutta und Barbara verdrehten die Augen.
Vier weniger zwei ist zwei, sagte Marie ungeduldig.
Falsch, rief Vater. Das Rechnen war richtig, aber du hast den Sinn verfehlt! Nochmal: Worauf steht das Pferd? Wir gehen erst zum Springbrunnen und essen Eis, wenn ihr das hier begriffen habt! Ihr seid keine Wickelkinder!
Das Pferd steht auf den Beinen, sagte Barbara, sie wollte loslachen, aber der Vater warf ihr einen Blick zu und sie erstarrte. Ihr seid dumm! Ihr wollt nicht sehen, ihr wollt nicht denken! Mutter, was sagst du?
Sie war damit beschäftigt, Katrin festzuhalten, die nach Tauben jagen wollte. Mutter nahm sie hoch und sagte, ich will keinen Ton mehr hören.
Vater fragte, seid ihr blind? Worauf steht das Pferd? Marie?
Sie flüsterte, auf seinen Beinen. In ihrem Mund war viele Spucke. Von oben stach die Sonne. Der Vater wischte sich den Schweiß ab. Was seid ihr nur für Dummköpfe. Fangen wir ganz einfach an. Woraus besteht ein Pferd?
Kopf, Hals, Bauch, Beine, Schweif, sagte Barbara.
Vater atmete auf. Wir kommen der Sache näher. Was seht ihr?
Die Sonne brannte. Das Schweigen drohte. Barbara kämpfte mit Tränen.
Jutta sagte, das Pferd steht auf zwei Beinen und dem Schweif. Stimme weit oben im Hals. Vater legte ihr die Hand auf den Kopf, du hast es erkannt. Du hast ein großes Lob verdient. Ihr seht hier ein massiges Ross! Es trabt mitsamt dem schweren Reiter! Könnte das Ganze wohl auf zwei Beinen stehen? Es würde umfallen! Der Erbauer des Denkmals hat mit dem Pferdeschweif eine dritte Stütze geschaffen! Diese Lösung ist schon sehr viel eleganter als die plumpen Reiterstandbilder, die ihr bisher gesehen habt. Später im Leben werdet ihr noch viele andere Denkmäler sehen und vergleichen können: Was ist Ungeschick und Unvermögen, was ist gelungen und überzeugt uns. Ihr dürft das Zählen nie vergessen. Beine, Schweife, Säulen, Baumstämme oder auch Stufen: Die Künstler lassen sich was einfallen, damit der Reiter nicht vom Pferd stürzt. Merkt euch das für den Rest des Lebens.
Die Töchter nickten für den Rest des Lebens.
Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, und an die Zwerge, die in manchen Wäldern wohnen. Ich glaube, dass wir niemals Tiere halten dürfen, weil wir genug Kinder sind. Aber wer oft die Treppe runterspringt, von immer höheren Stufen aus, und wer sich immer länger in der Luft hält, kann das Fliegen lernen.
Ich weiß, man kann Forsythienblüten essen und wird nicht krank. Kinder wachsen im Bauch der Mutter. Ein Männlein steht im Wald ganz still und stumm und hat von lauter Purpur ein Mäntlein um, das ist die Hagebutte. Der Uhu ist ein Nachtvogel. Hier gibt es keine Geier, nicht hier zu Hause. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und dass es keinen Mann im Mond gibt. Die Erde ist eine Kugel. Ohne Wasser kein Leben.
Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geiste, geboren aus Maria, der Jungfrau, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, abgestiegen zu der Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel, sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.
Ich weiß, was Eifersucht bedeutet: Man gönnt dem anderen etwas nicht, man will an seiner Stelle sein. Der Kuckuck legt Eier in fremde Nester und wirft die Eier der wahren Eltern heraus. Schwalben sind Frühlingsboten. Habichte jagen Hühner. In den Knochen der Vögel ist Luft. Der Mensch ist ein Tier.
Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen und an den Sandmann, der auf dem Dachboden wohnt, in der obersten Lade der Reisekiste, nachts hebt er den Deckel, steigt aus, er untersucht alle Sachen und steckt seine Nase in alles, was ihn nichts angeht. Ich glaube an den Nachlass der Sünden, die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben, Amen.
Ich weiß, dass unter der Kellertreppe ein Rest Kohlebriketts liegt, den keiner mehr braucht, und dass darunter eine weitere Treppe liegt und dass ich eines Tages die Briketts beiseite schaufeln werde und die Treppe weiter runtergehen muss, runter in den Keller unter dem Keller.
Ich glaube, außer Gott merkt es kein Mensch, dass jemand an die große Tonne ging. Es waren drei Katzen und drei Bären.
Ich weiß, wie man Lakritzenwasser macht. Lakritzen werden nicht aus Pferdeblut gekocht, sondern aus Süßholzwurzeln. Man unterscheidet zwischen Fleisch- und Pflanzenfressern.
Ameisen sind unter den Tieren die Hirten. Sie halten Läuseherden. Eine Laus trinkt Pflanzensaft, dann kommt die Ameise und saugt die Reste aus ihrem Hintern.
Marie konnte mit ihrem rechten Arm über den Kopf langen, ihr rechter Zeigefinger kam bis an das linke Ohr. Sie klebte die Rabattmarken von Mutter richtig ein und schrieb ein paar Wörter. Vater meldete sie fürs Kurzschuljahr an, das im Advent begann.
In diesen Tagen morgens der übliche Weg mit Mutter und Katrin zum Bauern, um Milch zu holen. Einmal gingen sie durch Schneegestöber. Sie waren dick eingemummt, trugen Gummistiefel mit Rosshaarsocken, handgestrickte Schals, Mützen und Fausthandschuhe. Sie stapften drei schöne Spuren ins Weiße.
Mutter sagte zu Marie, nun werden wir bald nicht mehr morgens miteinander plauschen können.
Marie freute sich: Bald Weihnachten, bald Schule.
Worauf freust du dich mehr?
Auf beides.
Falsche Antwort. Mund halten. Zu spät.
Mutter plauschte den Rest des Weges mit Katrin, Marie gönnte es ihr nicht.
Dann begann der erste Schultag in der Dorfkirche. Die Mütter hinten, vorne in den ersten Reihen vierunddreißig Kinder, die I-Kröttchen hießen. Marie kannte nur Monika Weiler vom Bauern, den Nachbarssohn Frank Zebner und die verbotene Frenschtochter, deren Eltern lebten getrennt. Der Pfarrer sprach und alle sangen. Die Großen aus der vierten Klasse führten ein Krippenstück auf, in dem Barbara ein wehendes Engelhemd trug, doch einer ihrer Pappflügel war abgeknickt. Nach der Kirche zogen Mütter und Kinder durch den Schnee zur Schule. Die Lehrerin hieß Fräulein Fritz und machte eine Führung. In der Aula sprach der Direktor. Dann mussten alle Erstklässler nach vorn gehen, ein Foto wurde gemacht. Zweiunddreißig winterlich vermummte Kinder, wie sie ihre Schultüten umarmen. Nur Frank und Marie hatten ihre noch nicht bekommen, die Mütter behielten sie bei sich: Ihr veranstaltet hier nicht am Anfang gleich schon Firlefanz.
Wochenlang später besah sich der Vater das Bild, er fand Marie sofort. Sie und Frank standen vor der Lehrerin, die ihnen ihre Hände auf die Schultern legte. Beide Kinder trugen Ranzen wie die anderen auch. Aber ihr beiden wirkt etwas verdattert, sagte der Vater, sah genauer hin und nickte: So fängt der Ernst des Lebens an.
Читать дальше