Ein Priester mit Glatze stand auf und hielt einen Vortrag. Er machte in der Ansprache aus allen Leuten eine einzige Familie, er nannte sie Brüder und Schwestern. Er stellte Fragen, die er selbst beantwortete. Man hörte zu. Man machte aus seinem Gesicht eine leere offene Fläche, in der sich nichts regte. Der Redner betrat diese Fläche mit seinen Worten, seiner Stimme. Er herrschte die Leute an, dann klagte er, dann säuselte er und lockte mit dem Zeigefinger. Er runzelte oft die Stirn, er lachte nie. Man konnte mitzählen, wie oft er zur Saaldecke aufsah und dabei eine Sprechpause machte. Alle Priester machten große Gesten. Ihr Gehen war Schreiten. Ihr Nicken war eine Verbeugung des ganzen Oberkörpers. Einer von ihnen schielte leicht, Marie verehrte ihn. Denn er war feurig wie das Pferd, und er meinte es gut. Er donnerte, schlug mit der Faust auf das Pult. Manchmal schüttelte er beide Fäuste gegen die Leute. Immer wieder breitete er die Arme weit aus, dann hob er sie über den Kopf.
Die Gemeinde saß still. Fast alle hatten die Hände gefaltet, so dass man sie leicht hätte fesseln können. Man sollte sich auf das Wort besinnen.
Das fiel einem beim Knien schwer. Es hing jeweils vom Redner ab, wie lang man knien musste. Der schielende Priester horchte jeder Bitte, jedem Geständnis und jedem Dank lange nach, dann fügte er noch eine Bitte, noch ein Geständnis und noch einen Dank hinzu. Er dachte nicht mehr an die Leute, er dachte an Gott, er war in seine Vorführung für ihn versunken.
Der Körper fühlte sich taub an, wenn man aufstehen durfte. Der Geist aber musste sich auf das Wort besinnen.
Ein seltsames Wort war das. Einerseits sprach man es selbst, in Wechselrede mit den erhöhten Priestern. Andererseits waren alle Worte vorgeschrieben von Gott, der abwesend war. Die Worte umkreisten den Abwesenden. Der Abwesende war die Worte. Es war nicht zu verstehen. Er war nicht da und war überall jederzeit. Er schwebte über den Wassern und war ein Geist. Zu Hause in der Badewanne durfte man ihn nicht herbeibeschwören. In der Kirche war er oft zu viel, auch wenn er fort war. Marie mochte auch nicht, dass fremde Leute zu Brüdern und Schwestern wurden. Und es gefiel ihr nicht, dass die Leute aus ihren Gesichtern leere offene Flächen machten, die von den Priestern betreten wurden. Es atmete sich nicht leicht in der Halle. Der Abwesende war beklemmend, man musste stillsitzen, man durfte nicht lachen. Der Herrgott war ein gewaltiges Lamm. Herr Gott war Vater, Sohn und Geist. Er konnte das Leben nehmen und schenken, wofür man dankte. Er gab den Atem und nahm ihn. Als Menschensohn war er Bruder und Freund. Marie hätte es gern verstanden. Sie sah die große Vorführung, sie jubilierte mit den anderen und allen Heerscharen im Himmel, sie verstand es nicht.
Der Abwesende aus der Halle war bei ihr im Bett, in jeder stillen Nacht, wenn alles schläft. Da war er ganz verwandelt. Er kannte kein Müssen. Er war das Wort und nahm Gestalt an.
Er wurde vom weißen Lamm zum feurigen Pferd. Er näherte sich ihr als Bruder und als Freund.
Er war ihre große Verführung. Sie hörte: Wie du willst, Marie.
Auf in Bewegung, ins Offene, los, alles los, in die Wildnis, ins Freie, ich bin es, auf dem feurigen Pferd der Ritt mit dem Daumen im Mund auf die wortlose Reise, langsame Steigerung, schneller und heißer und wilder werden, geschmiegt auf das Pferd, in einem einzigen Rhythmus sein, in einer Bewegung das Atmen, das Pferd und der Reiter, sie stürmen durchs Weite, sie bäumen sich auf, sie sinken zusammen, sie halten einander fest, ein klopfendes Herz ist zu hören, das Eine in Allem und Alles in Einem.
Auto, Krefeld, Ferien in Holland
Das Auto in der Garage war rund und blau, ein Wal oder eine Arche. Kinder durften nicht allein hinein, doch Jutta und Barbara hatten Mamatschi einmal reingelockt. Sie saß auf der Rückbank, Barbara war der kühne Vater am Steuer, Jutta als Mutter blätterte in Landkarten und gab die Richtung vor. Marie kam gern als Sohn dazu. Die Reisenden wurden erwischt, zur Strafe mussten die Kinder Eckestehen, und Mamatschi bekam das Abendessen in ihrem Zimmer.
Marie fand das Auto schön, solange es reglos stand, so stark und schwer und still. Durch das Garagenfenster redete sie ihm oft zu, um es zu zähmen. Der Vater hatte es Rosinante genannt, nach Don Quichottes Pferd.
Die großen Schwestern hatten Sommerferien. Vater saß an seiner Schreibmaschine und kam nicht weiter mit seinem Aufsatz. Werden und Wachsen einer Rheinstadt . Mutter fand, er hätte beim Rasselstein bleiben sollen. Das Werden und Wachsen der Rheinstadt kümmerte vor sich hin, denn Vater hatte eine Schreibkrise. Mutter fragte, bist du Goethe? Sie zeigte ihm das Haushaltsbuch. Sie sprach über die festen roten und die unsicheren schwarzen Zahlen. Sie sagte, Oma Hanna findet freie Journalisten, der Vater unterbrach sie, schrie, ich bin nicht stellungslos, ich arbeite! Er hackte auf der Maschine weiter. Mutter beruhigte ihn, die Kinder und sich selbst: Unsere schwarzen Zahlen reichen. Wir zahlen dem Rasselstein pünktlich die Miete. Wir ernähren uns, wir spenden für die Armen, wir tanken das Auto. Wir fahren sogar in die Ferien.
Mutters Schwester hatte reich geheiratet. Tante Rose, Onkel Dirk und zwei Söhne lebten in Krefeld in einem Haus mit Wendeltreppe und Swimmingpool. Morgens gingen die Erwachsenen von ihrem Schlafzimmer aus die Wendeltreppe runter, dann konnten sie gleich ins Wasser springen. Oder sich auf das Standrad setzen und trainieren. In ihrem Garten stand eine Hollywoodschaukel. Sie besaßen auch ein Haus mit See in Genepp, Holland, und wenn sie nicht selbst dort waren, durften andere dort ihre Ferien verbringen.
Marie dachte an süßen holländischen Hagelschlag. An die weite Fahrt und daran, wie das Auto stank, nach Würstchen und Benzin und Kotze.
Genepp, Vater sprach es aus, als hätte er etwas verschluckt, Chenepp. Die Kinder krächzten ihm nach, Chenepp.
Das Packen vor der Reise: Koffer, Rucksäcke, Schuhbeutel, Bettwäschesäcke. Medikamentenkasten, Waschzeug, Badesachen, Spielzeug, Bücher, Schreibmaschine, Lebensmittel.
Am Abend vor der Reise trugen sie alles zur Rosinante. Vater wuchtete die schweren Sachen in den Kofferraum und füllte Lücken mit weichen Säcken. Dann fielen ihm die sperrigen Kartons mit Weinflaschen und Eingemachtem ein. Mutters Wäschefalten war der blanke Unverstand gewesen. Bettlaken und Handtücher konnten als Schutz für die Flaschen und Gläser dienen. Er sagte, Ordnung ist nur das halbe Leben. Jedes System braucht Fantasie! Warum sind wohl die alten Römer am Ende untergegangen?
Die beiden stopften das Auto voll bis auf den letzten freien Fleck. Dann studierte Vater noch einmal die Landkarten. Mutter sorgte in der Küche für den Proviantkorb. Auf alle Reisebrote kam ein Salatblatt, damit die Schnitten sich hielten. Das gab es nur auf der großen Reise nach Genepp.
An einem frühen Morgen saßen die Kinder in sauberen Kleidern hinten im Auto, die großen Schwestern an den Fenstern, die beiden kleinen auf den mittleren, billigen Plätzen. Keiner von ihnen muckste. Sie hatten ihre Lieblingswesen mit dabei, den Hund Dröner, den Tiger Tüschen, die Puppe Lieschen, den Teddy Judith. Die Eltern ermahnten Mamatschi. Vater steckte den Schlüssel mit dem heiligen Christophorus ins Schloss, und als der Motor lief, zeichneten sich die Eltern gegenseitig ein Kreuz auf die Stirn. Auch jedes Kind bekam eins. Vater fuhr los. Die Kinder winkten der Großmutter und dem Haus, dann fingen sie zu singen an.
Später zählten sie Verkehrsschilder und spielten Stein schleift Schere. Sie winkten anderen Autofahrern. Sie stritten, weil es längst Zeit war, die Plätze zu wechseln. Am Fenster konnte man nach Luft schnappen. Wem schlecht wurde, der sollte sich beizeiten melden. Er bekam ein Apfelstück und musste an einem Erfrischungstuch riechen.
Читать дальше