Jeden Sonntag nahmen meine Eltern mich, meine Brüder und meine Schwester mit auf einen Feldgang über alle Äcker und Felder unseres Hofes. Hin und wieder blieb mein Vater stehen, um aus einer Ackerfurche einen Klumpen Erde aufzuheben, sodass wir ihn untersuchen und die unterschiedlichen Typen und Strukturen sehen lernen konnten. Die Qualität der Erde, erklärte er, hängt von einer ganzen Masse lebender Mikroorganismen ab – Millionen lebender Organismen, die jeden Kubikzentimeter Erde bevölkern und beleben und deren Arbeit existenziell dafür ist, dass die Erde atmen und sich als lebendes System entwickeln kann.
Dieses Buch lädt Sie zu einem Feldgang durch die soziale Landschaft unserer sich rasant verändernden globalen Gesellschaft ein. Und genau wie meine Familie es damals während des Feldgangs tat, werden wir auch jetzt hin und wieder anhalten und einen Klumpen voller Daten und Erfahrungen aufheben, damit wir ihn untersuchen und das tiefere Terrain sozialer Felder besser verstehen können. So bemerkte Jonathan Day von McKinsey einmal bezüglich seiner vielfältigen Erfahrungen mit globalen Unternehmen und ihren Transformationsprozessen: »Das Wichtigste in all diesen Prozessen ist etwas, das für das Auge gänzlich unsichtbar bleibt.« 22
Wie jedoch können wir uns einem bewussteren und klareren Sehen dieses tieferen Terrains annähern?
Wo liegt der strategische Hebelpunkt, der es ermöglicht, die Struktur eines sozialen Feldes umzuschmelzen, umzustülpen? Wo liegt der archimedische Punkt – die Bedingung der Möglichkeit –, durch den sich das globale soziale Feld verändern ließe?
Für meinen Vater war das sonnenklar. Wo setzt man seinen »Hebel« an? An der Erde. Man konzentriert sich darauf, kontinuierlich die Qualität der Humusschicht zu verbessern. Jeden Tag. Der fruchtbare Humus ist eine dünne Schicht lebender Substanzen, die sich durch die ineinander verschlungene Verwebung zweier Welten entwickelt: des sichtbaren Reichs an der Erdoberfläche und des unsichtbaren Terrains darunter. Die Begriffe Kultur und Kultivierung haben ihren Ursprung in der Ausübung genau dieser Tätigkeit. Landwirte kultivieren den Humus, indem sie die Verbindung zwischen den beiden Welten vertiefen .
Wo liegt der Hebelpunkt im Falle des sozialen Feldes? An genau der gleichen Stelle: an der Schnittstelle und der Verbindung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Schicht des sozialen Feldes. Der fruchtbare »Humus« der Organisation entsteht dann, wenn diese beiden Welten sich begegnen, verbinden und miteinander verflechten.
Was entspricht dann, im Falle der sozialen Felder, der sichtbaren Welt? Das ist, was wir tun, sagen, spüren und sehen . Das soziale Handeln, wie es von einer Kamera eingefangen und dokumentiert werden kann. Und was ist die unsichtbare Schicht des sozialen Werdens? Es ist die innere Verfassung , von der aus die Teilnehmenden einer Situation handeln. Es ist die entspringende Quelle all dessen, was wir tun, sagen, spüren und sehen. Nach Bill O’Brien ist dies der entscheidende Punkt, auf den es für jede Initiative, jede Führungskraft am meisten ankommt. Vorausgesetzt, man will eine Zukunft gestalten, die sich von der Vergangenheit unterscheidet. Das ist der blinde Fleck oder innere Ort, an dem unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention generiert werden und in die Welt kommen.
In Teil Idieses Buches, »Begegnung mit dem blinden Fleck«, werde ich argumentieren, dass wir über die Ebenen, Systeme und Sektoren hinweg letztlich alle mit dem gleichen Problem konfrontiert werden: Die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, erfordern es, uns des inneren Standortes, von dem aus wir agieren, bewusst zu werden und ihn zu verändern. Konsequenterweise müssen wir lernen, gegenüber beiden Dimensionen gleichzeitig aufmerksam zu werden:
•gegenüber dem, was wir sagen, sehen, spüren und tun (unserer sichtbaren Dimension), und
•gegenüber dem inneren Ort , von dem aus wir wirken (unserem unsichtbaren Terrain, von dem her unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention in die Welt kommen).
Ich nenne den vermittelnden Bereich, der diese beiden Dimensionen miteinander verbindet, die Feldstruktur der Aufmerksamkeit . Sie ist das funktionale Äquivalent des Humus in der Landwirtschaft, indem sie beide Dimensionen des Feldes verknüpft.
Die gemeinsame Gegenwärtigung unserer Feldstruktur der Aufmerksamkeit – das heißt, das gemeinsame Gewahrwerden des inneren Ortes, von dem aus wir agieren – könnte der zentrale Hebelpunkt sein, durch den das soziale Feld in unserem Jahrhundert verwandelt werden kann, da es den einzigen Punkt unseres gemeinsamen Bewusstseins darstellt, über den wir vollständige Kontrolle haben. Denn die gemeinsam hervorgebrachte Struktur der Aufmerksamkeit ist ganz klar von uns fabriziert, d. h., wir können die Urheberschaft auf keinen anderen abschieben. Sobald wir diesen Punkt zu sehen in der Lage sind, können wir ihn als Hebel für praktische Veränderung nutzen. Er ermöglicht uns, anders zu handeln. In dem Ausmaß, in dem es uns gelingt, unsere Aufmerksamkeitsstruktur und ihre Quelle zu sehen , können wir das System verändern. Doch dafür müssen wir den inneren Ort, von dem aus wir handeln, verändern.
Das Umschmelzen und Umstülpen der Struktur unserer Aufmerksamkeit
Das Wesen von Führung besteht darin, sich dieses blinden Flecks bewusst zu werden und dann den inneren Ort, von dem aus wir handeln, auf individueller ebenso wie auf kollektiver Ebene zu verändern.
Der Boden auf den Feldern meines Vaters reichte von flach bis tief. Entsprechend gibt es auch in unseren sozialen Feldern fundamental unterschiedliche Aufmerksamkeitsschichten (Feldstrukturen), die sich ebenfalls von flach bis tief erstrecken. Die Feldstruktur der Aufmerksamkeit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem. Sie betrifft die Qualität, mit der wir uns zur Welt in Beziehung setzen. Diese Qualität variiert abhängig von dem Ort oder der Position, von der aus unsere Aufmerksamkeit in die Welt kommt, relativ zu der organisationalen Grenze des Beobachters.
Durch meine Forschung, die zum vorliegenden Buch geführt hat, habe ich vier unterschiedliche Orte oder Positionen gefunden, die jeweils eine andere Qualität oder Feldstruktur der Aufmerksamkeit hervorbringen:
• Ich-in-mir: was ich wahrnehme, ausgehend von meinen üblichen Seh- und Denkgewohnheiten
• Ich-in-es: was ich wahrnehme, wenn meine Sinne und mein Denken weit geöffnet sind und ich neu hinsehe
• Ich-in-dir: auf was ich mich von innen heraus einstimme und was ich wahrnehme, wenn mein Denken und mein Herz weit geöffnet sind
• Ich-in-wir und Ich-in-Gegenwärtigung: was ich erkenne, wenn ich vom Grund dessen, was entstehen will, her sehe, wenn ich meine Aufmerksamkeit mit offenem Fühlen, Denken und Willen zuwende
Die vier Feldstrukturen unterscheiden sich im Hinblick auf den Ort , von dem aus die Aufmerksamkeit (und die Intention) in die Welt kommt: Gewohnheiten, offenes Denken, offenes Fühlen bzw. offener Wille. Jedes Handeln einer Person, einer Leitungskraft, einer Gruppe, einer Organisation oder einer Gemeinschaft kann auf diese vier Weisen hervorgebracht werden.
Um diese Unterscheidung zu verdeutlichen, schauen wir uns das Beispiel »Zuhören« an. In den Jahren meiner Arbeit mit Gruppen und Organisationen habe ich vier Grundtypen des Zuhörens identifiziert:
1) »Ist schon klar, weiß ich schon.«
Der erste Typ des Zuhörens ist das Runterladen : zuhören, indem man die eigenen Denkgewohnheiten wieder bestätigt. Wenn Sie in einer Situation sind, wo alles, was passiert, bestätigt, was Sie eh schon wussten, dann hören Sie im Downloading-Modus zu.
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