Heute, über 400 Jahre später, stehen wir vor einem weiteren Durchbruch. Galileo transformierte die Wissenschaft, indem er uns ermutigte, unseren eigenen Augen zu trauen und unsere Sinne zur Erfassung externer Daten einzusetzen. Heute sind wir gefordert, diese Methode zu verbreitern und zu vertiefen und dadurch ein viel umfassenderes Set von Daten dem Erkenntnisprozess zugänglich zu machen. Damit das gelingt, müssen wir ein Teleskop neuen Typs entwickeln: nicht des Typs, durch den wir beobachten können, was weit außerhalb von uns selbst liegt – die Monde des Jupiters –, sondern eines anderen Typs, durch den wir den Beobachtungsstrahl krümmen, wenden und schließlich auf seinen Ursprungsort zurücklenken können: auf den blinden Fleck, d. h. auf das Forschung betreibende Selbst des Beobachters. Zu den Instrumenten, die wir brauchen, um den Beobachtungsstrahl auf die Quelle zurückzulenken, gehören nicht nur ein offenes Denken (das zum normalen Modus des Fragens und Erforschens gehört), sondern auch ein offenes Herz und ein offener Wille . Auf diese subtileren Aspekte der Beobachtung und Erkenntnis werden wir später noch ausführlicher eingehen.
Die heutige Wissenschaftstransformation ist nicht weniger revolutionär als seinerzeit die von Galileo Galilei. Auch der Widerstand der amtierenden Wissens- und Würdenträger wird nicht weniger erbittert sein als der, auf den Galilei seinerzeit stieß. Und dennoch müssen wir, sofern wir uns den globalen Herausforderungen stellen und den Ruf unserer Zeit hören wollen, fragen, wie eine neue Synthese der Wissenschaft, der sozialen Evolution und des Werdens des Selbst (oder des Bewusstseins) aussehen kann. Lange Zeit war es unter Sozialwissenschaftlern und Managementforschern eine weit verbreitete Praxis, eigene Methoden und Paradigmen aus den Naturwissenschaften, z. B. der Physik, abzuleiten (oder zumindest durch diese zu legitimieren). Ich meine, dass nun die Zeit gekommen ist, dass Soziologen aus ihrem Schatten heraustreten und eine weiterentwickelte Methodologie der Sozialwissenschaften etablieren, die Wissenschaft (Perspektive der dritten Person), soziale Transformation (Perspektive der zweiten Person) und die Entwicklung des Selbst (Perspektive der ersten Person) in ein kohärentes Konzept von auf Bewusstheit gründender Aktionsforschung integriert.
Ein solches Gerüst entwickelt sich bereits aus zwei bedeutsamen Richtungsänderungen, die in den Sozialwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben:
•Auf die erste wird häufig als aktionsforscherische Wende verwiesen – Kurt Lewin, ihr Pionier, und seine Anhänger haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Ansätzen zur Aktionsforschung vorangetrieben (vgl. Reason a. Bradbury 2001).
•Die zweite Richtungsänderung erfolgte im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert und wird häufig als die reflexive Wende beschrieben, sollte aber vielleicht besser selbstreflexive Wende auf die eigenen Muster von Aufmerksamkeit und Bewusstsein genannt werden.
Die sich entwickelnde Synthese verknüpft alle drei Blickrichtungen: die der Wissenschaft (Daten sprechen lassen), die der Aktionsforschung (man kann ein System nicht verstehen, solange man es nicht verändert) und die der Evolution von Bewusstsein und Selbst (den blinden Fleck erkennen und erhellen).
Vor 2300 Jahren schrieb Aristoteles, wohl der größte Pionier und Innovator westlichen Forschens und Denkens, in Band VI seiner Nikomachischen Ethik , es gäbe in der menschlichen Seele fünf verschiedene Wege oder Fähigkeiten, die Wahrheit zu erfahren (Aristoteles 1972, NE 1139 615). Nur einer von ihnen ist die Wissenschaft (gr.: episteme ). Wissenschaft ist nach Aristoteles auf Dinge beschränkt, die sich so und nicht anders verhalten (d. h. auf den Bereich, in dem die Dinge durch Notwendigkeit bestimmt sind). Die vier anderen Wege und Fähigkeiten der Wahrheitsfindung hingegen beziehen sich auf die übrigen Lebensbereiche: Kunst oder das Herstellen (gr.: techne ), praktische Weisheit (gr.: phronesis ), theoretische Weisheit (gr.: sophia ) und die Intuition oder Fähigkeit, Grundprinzipien oder Quellen zu erfassen (gr.: nous für »Geist, Vernunft«).
Die moderne Wissenschaft beschränkte sich bislang weitgehend auf episteme . In unserem Jahrhundert sollten wir jedoch unser Wissenschaftsverständnis erweitern und auch die übrigen Zugänge zur Wahrheitsfindung in den Prozess des wissenschaftlichen Erkennens einbeziehen: Technologien ( techne ), praktische Weisheit ( phronesis ), theoretische Weisheit ( sophia ) und die Fähigkeit, die Quellen der Aufmerksamkeit und Intention ( nous ) intuitiv zugänglich zu machen.
Unser gemeinsamer Feldgang: Der Denkweg dieses Buches
Wie dieses Buch organisiert ist
Nachdem wir in Teil Igegen den »blinden Fleck« prallen, erleben wir in Teil IIein »Eintreten in das U-Feld«, gefolgt von »Presencing: Eine soziale Technik für tief greifende Innovation« und Veränderung durch gemeinsame Gegenwärtigung in Teil III.
Teil I des Feldgangs setzt sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen des blinden Flecks auseinander. Ich werde argumentieren, dass die zentrale Krise unserer Zeit damit zu tun hat, dass wir auf allen Systemebenen unserer Gesellschaft immer wieder auf das gleiche Problem stoßen: unseren blinden Fleck. Auf allen Ebenen werden wir immer wieder mit der gleichen Unzulänglichkeit konfrontiert: Wir sind nicht in der Lage, generativ auf die aktuellen Herausforderungen zu antworten, solange wir uns unseres blinden Flecks nicht bewusst werden und den inneren Ort, von dem aus wir handeln, nicht verändern.
In Teil II werden wir den Kernprozess analysieren, durch den der blinde Fleck erhellt und bewusst gemacht werden kann.
Teil III unseres Feldgangs diskutiert diesen Kernprozess im Sinne einer evolutionären Grammatik , die dann in zweierlei Hinsicht entwickelt wird: zum einen als Theorie der sozialen Felder (U-Theorie) und zum anderen als soziale Technik (24 Prinzipien und Praktiken des Presencing).
Das Buch schließt mit einem Epilog, der den Titel trägt: »U.School – Bewusstseinsbasierten Systemwandel praktisch machen«. Darin werden Ideen und ein allgemeiner Plan für eine globale Aktionsforschungsuniversität dargelegt, die die oben angesprochenen Prinzipien durch eine Integration von Wissenschaft, Bewusstsein und sozialer Evolution in die Praxis umsetzt.
Die folgenden 21 Kapitel integrieren die Erkenntnisse aus Dialoginterviews mit weltweit 150 führenden Denkern und Praktikern in den Bereichen Strategie, Wissen, Innovation und Führung. Der Denkweg dieses Buches reflektiert auch die Biografie des Verfassers – erkennbar die eines weißen männlichen europäischstämmigen Amerikaners – sowie meine Forschung am MIT und ungezählte Diskussionen mit und Anregungen durch Kolleginnen und Kollegen am MIT und an anderen Institutionen von Forschung und Praxis. Ich habe die sich hieraus entwickelnde U-Theorie auf der Basis von Beratungs- und Aktionsforschungsprojekten mit globalen Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen, beispielsweise Alibaba, Daimler, Decurion, Eileen Fisher, Federal Express, Fujitsu, GlaxoSmithKline, Google, Hewlett-Packard, ICBC, McKinsey, Oxfam, PricewaterhouseCoopers und verschiedenen Multistakeholder-Gruppen geformt und getestet.
Besonders inspiriert hat mich immer die enge Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Kunst, zum Beispiel mit Arawana Hayashi, die durch zahlreiche Projekte das sogenannte Social-Presencing-Theater entwickelt hat. Einige der Illustrationen im Buch basieren auf meinen eigenen handgezeichneten Bildern und viele weitere stammen von professionellen Künstlern; diese Bilder machen die Konzepte lebendig und veranschaulichen sie oft viel besser als Worte. Ich hoffe, dass ihre Einbeziehung den Zugang zu einigen der anspruchsvolleren Ideen in diesem Buch erleichtert.
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