Man kann dieses Phänomen damit vergleichen, welchen Zugang man als Betrachter zu der Arbeit eines Künstlers oder einer Künstlerin wählt. Es gibt zumindest drei mögliche Perspektiven:
•Wir können uns auf das Ding konzentrieren, das aus einem kreativen Prozess hervorgeht – sagen wir, ein Bild,
•wir können uns auf den Prozess des Malens konzentrieren, oder
•wir können die Künstlerin beobachten, während sie vor einer leeren Leinwand steht.
Mit anderen Worten: Wir können ihr Werk ansehen, nachdem es geschaffen worden ist (das Ding), während sie es schafft (den Prozess) oder bevor der schöpferische Prozess einsetzt (die leere Leinwand oder die Dimension der Quelle).
Setzen wir dies in Analogie zu sozialen Prozessen und Führung, so können wir auch die Arbeit von Führungskräften aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten ( Abb. E.1):
•Erstens könnten wir dabei zusehen, was der Führende (meistens ist es immer noch ein »Er«) tut. Unzählige Bücher wurden aus dieser Perspektive geschrieben.
•Zweitens könnten wir beobachten, wie geführt wird, welchen Prozess Führende in Gang setzen. Das ist der Blickwinkel, den wir seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Management- und Führungsforschung eingenommen haben. Wir haben alle Aspekte und funktionalen Bereiche im Zusammenhang mit Managern und Führungskräften aus der Sicht des Prozessparadigmas analysiert. Viele hilfreiche Erkenntnisse sind aus diesem Strom der Forschungsarbeit hervorgegangen.
•Niemals jedoch haben wir systematisch die Arbeit der Führenden von der dritten Möglichkeit her angesehen, der leeren Leinwand. Die Frage, die ungestellt blieb, lautet: Welches sind die inneren Quellen, von denen aus Führende wirksam werden, wenn sie wahrnehmen, kommunizieren und handeln?

Abb. E.1: Drei Perspektiven für die Arbeit von Führungskräften
Dieser blinde Fleck fiel mir zum ersten Mal auf, als ich mit dem früheren Geschäftsführer der Hanover Insurance Group , Bill O’Brien, sprach. Er erzählte mir, seine größte Erkenntnis nach vielen Jahren von Veränderungsmanagement und organisationsweitem unternehmerischem Wandel sei, dass »der Erfolg einer Intervention von der inneren Verfassung des Intervenierenden abhängt«.
Diese Beobachtung schlug bei mir ein wie der Blitz. Bill half mir zu verstehen, dass das, was zählt, nicht nur das ist, was Führende tun und wie sie es tun, sondern auch ihre »innere Verfassung«, der innere Ort, von dem aus sie wahrnehmen, der Quellort, von dem alle Handlungen ihren Ausgangspunkt nehmen.
Der blinde Fleck, um den es hier geht, weist auf einen fundamentalen Aspekt in Management und Sozialwissenschaften hin. Er berührt ebenfalls unsere tägliche soziale Erfahrung. Während unserer täglichen Arbeit oder unserer täglichen sozialen Interaktionen sind wir uns normalerweise sehr dessen bewusst, was wir tun und was andere tun; wir verstehen auch einigermaßen, wie wir die Dinge tun, verstehen die Vorgehensweisen, mittels deren wir und andere handeln. Wenn wir jedoch fragen würden: »Was ist eigentlich der Quellpunkt, von dem aus wir tätig werden?«, so wären die meisten von uns wahrscheinlich nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Wir können die Quelle, von der aus wir aufmerksam sind und wirksam werden, nicht sehen; wir sind uns des Ortes, der den Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit und Intention bildet, nicht bewusst.
Nachdem ich die letzten zwei Jahrzehnte meiner professionellen Tätigkeit im Bereich des organisationalen Lernens verbracht habe, ist meine wichtigste Erkenntnis, dass es zwei unterschiedliche Quellen des Lernens gibt:
•Lernen aus den Erfahrungen der Vergangenheit und
•Lernen aus der im Entstehen begriffenen Zukunft .
Der erste Lerntyp, Lernen aus der Vergangenheit, ist gut bekannt und breit erforscht. Er ist die Basis aller heute bedeutsamen Lernmethodologien, besten Praktiken und Ansätze für Organisationslernen. 17Im Gegensatz hierzu steckt der zweite Lernansatz, nämlich wie aus dem Entstehen der Zukunft heraus gelernt werden kann, noch in den Kinderschuhen.
Ein paar Leute, denen ich die Idee einer zweiten Quelle des Lernens zunächst vorstellte, fanden, der Gedanke führe in die falsche Richtung. Der einzige Weg, zu lernen, argumentierten sie, sei der aus der Vergangenheit: »Otto, aus der Zukunft zu lernen ist nicht möglich. Verschwende deine Zeit nicht!« Aber als ich begann, mit Führungsteams aus unterschiedlichsten Sektoren und verschiedenen Industrien zu arbeiten, wurde mir klar, dass Leitungskräfte den aktuellen Herausforderungen der krisenhafte Zusammenbrüche (Disruption; vgl. Bild 3und Beobachtung 2 im Vorwort zur Neuauflage) gar nicht genügen können , wenn sie sich nur auf der Basis vergangener Erfahrungen bewegen.
Als ich dann nach und nach feststellte, dass diejenigen Führungskräfte und Erneuerer, die mich am meisten beeindruckten, von einem anderen Kernprozess aus zu arbeiten schienen, von einem Prozess aus, der uns in entstehende Zukunftsmöglichkeiten hinein zieht , fragte ich mich: Wie können wir eine zukünftige Möglichkeit, die entstehen will, besser wahrnehmen und uns mit ihr verbinden? 18
Ich nannte diese Wirkungsweise aus der entstehenden Zukunft heraus, während diese entsteht, Presencing . 19Presencing, also die Gegenwärtigung oder das Anwesendwerden, ist die Verbindung von zwei englischen Begriffen: » presence « (Anwesenheit) und » sensing « (spüren). Presencing heißt, sein eigenes höchstes Zukunftspotenzial zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln – d. h. Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit. 20
Das vorliegende Buch beschreibt den Prozess und das Resultat einer 20-jährigen Forschungsarbeit, die nur durch die Unterstützung von und die Zusammenarbeit mit einer einzigartigen Konstellation von Kolleginnen und Kollegen sowie Freunden und Freundinnen möglich wurde. 21Die der Forschungsreise zugrunde liegende Frage lautet: »Wie können wir aus der im Entstehen begriffenen Zukunft heraus handeln, wie aktivieren wir die tieferen, mehr schöpferischen Schichten des sozialen Feldes?«
Ein Feld ist, wie jeder Landwirt weiß, ein komplexes, lebendes System – ebenso wie die Erde insgesamt ein lebendiger Organismus ist.
Ich bin auf einem Bauernhof in der Nähe von Hamburg aufgewachsen. Eines der ersten Dinge, die mir mein Vater, ein Pionier der biodynamischen Landwirtschaft in Europa, beibrachte, war, dass die lebendige Qualität des Bodens die wichtigste Sache in der biologischen Landwirtschaft überhaupt ist. Jedes Feld, so erklärte er mir, hat zwei Seiten: die sichtbare, also das, was wir oberhalb der Erde sehen, und die unsichtbare oder das, was unter der Oberfläche ist. Die Qualität der Ernte – das sichtbare Resultat – ist eine Funktion der Qualität des Ackerbodens, also derjenigen Elemente des Feldes, die für das Auge weitgehend verborgen bleiben.
Meine Überlegungen im Hinblick auf soziale Felder setzen genau an diesem Punkt an: dass (soziale) Felder die Grundvoraussetzung für produktive soziale Beziehungen sind. Und so, wie jeder gute Landwirt unablässig seine Aufmerksamkeit dem Erhalt und der Verbesserung der Bodenqualität widmet, so sollte jede gute Führungskraft einer Organisation ihre Aufmerksamkeit auf den Erhalt und die Verbesserung der Qualität des sozialen Feldes lenken – gewissermaßen auf den Mutterboden des betreffenden sozialen Systems, in dem jeder verantwortlich Führende und Changemaker tagein, tagaus arbeitet.
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