1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Das amerikanische Kommando hatte nur Wasser gebracht. Auf den Gesichtern der Gefangenen zeigte sich grenzenlose Enttäuschung. Nach der enttäuschten Hoffnung vor den Entlausungszelten war dies der zweite Tiefschlag im Laufe des Tages. Niedergeschlagen reihten sie sich in die Schlange ein, um ihre Feldflaschen oder Kochgeschirre mit Wasser zu füllen. Das Begleitkommando stand abseits und sah dem Treiben am Wassersack gelangweilt zu.
Georg stieß Krumbiegl an. »Komm, lass uns versuchen, einen vollen Kanister zu klauen. Gib’s an die anderen weiter!«
Krumbiegl nickte.
Sie waren Verschwörer ohne Plan, doch ein Zufall kam dem Vorhaben zu Hilfe. Das Dreibein hielt dem Geschaukel bei der Wasserentnahme auf dem vom Regen aufgeweichten Untergrund nicht stand, neigte sich plötzlich, stürzte um und ergoss seinen kostbaren Inhalt auf den Boden. In dem allgemeinen Tumult gelang es Randauer und Krumbiegl, einen der vollen Kanister zu sich heranzuziehen. Sie deckten ihn mit ihren Körpern und warfen ihre Mäntel darüber. Die anderen erfassten die Situation sofort und folgten ihrem Beispiel, sodass sich schließlich über dem Kanister ein Mantelberg türmte. Sie taten jetzt sehr geschäftig und versuchten mit viel Hallo, das Gestell wieder aufzurichten.
Die amerikanischen Soldaten hatten von dem Manöver nichts gemerkt und amüsierten sich über die Bemühungen der Gefangenen beim Wiederaufrichten des Gestells. Der Sack wurde wieder mit Wasser gefüllt, und die Verteilung ging weiter. Der Corporal ließ die leeren Kanister auf den Lastwagen laden, ohne die Anzahl zu kontrollieren. Georg hatte unwillkürlich die Luft angehalten und atmete mit einem »Huh« erleichtert aus, als die GIs aufsaßen und der Lastwagen das cage verließ. Die Männer nahmen ihre Mäntel wieder auf und schleppten ihre Beute mit einem Gefühl des Triumphs zu ihren Löchern. Der Inhalt des Kanisters bedeutete für jeden von ihnen etwa einen Liter Wasser! Mit dem, was sie außerdem in ihre Feldflaschen und Kochgeschirre abgefüllt hatten, waren sie jetzt fast zwei Liter Wasser reich!
Wind und Regen kamen weiterhin beständig aus Nordwesten, schwächelten manchmal und ließen dann die Hoffnung auf eine Wetteränderung aufkeimen. Georg und Krumbiegl arbeiteten weiter an ihren Löchern. Der heftiger werdende Regen grub kleine Furchen in die Wälle und drohte die ganze Arbeit wieder zunichte zu machen. Als sich die regenschwere Dunkelheit über das Lager senkte, beendeten sie die Arbeit. Sie hatten bis jetzt ein drei Handbreit tiefes Loch erbuddelt, auf dessen Boden sich kleine Pfützen bildeten, und nun suchten sie ihre nähere Umgebung nach Dingen ab, mit denen sich das feuchte Loch einigermaßen auspolstern ließ. Sie fanden das Stück eines Zementsacks und schnitten mit Georgs Taschenmesser vom Regen platt gedrücktes Vorjahresgras ab. Damit bedeckten sie den Boden ihres Lochs und deckten es mit der Zementtüte ab. Sie setzten sich darauf, rückten aneinander und legten sich Georgs Decke über ihre Köpfe und Schultern.
Georg erinnerte sich an seinen Vorsatz, jeden Abend einen Brief von Marie zu lesen. Als er nach den Briefen in die Jackentasche griff, klatschten ein paar dicke Regentropfen auf seine schmutzigen Hände. Angewidert sah er zu, wie sie sich in den Dreck hineinfraßen und hässliche Muster auf der Haut hinterließen. Da zog er die Hand zurück und beschloss, die Briefe nur bei trockenem Wetter herauszunehmen, um sie nicht zu beschmutzen.
Die zweite Nacht begann wie die erste. Der Regen fiel gleichmäßig, aber er spürte ihn schon nicht mehr. Der Morgen quälte sich aus der Nacht, so wie der vergangene Abend in die Nacht hineingekrochen war – grau, nass und kalt. Georg wusste nicht, was ihn geweckt hatte, eine Bewegung Krumbiegls, ein eingeschlafener Arm oder der plötzlich mit Windböen daherkommende Regen. Auch Krumbiegl bewegte seine schlafsteifen Glieder, und aus den Nachbarlöchern waren ebenfalls Bewegungen, Hustengekrächze und Fluchen zu vernehmen. Die Gefangenen verließen ihre Löcher, bewegten die steifen Knochen, einige wünschten sogar einen »Guten Morgen« und machten flapsige Bemerkungen über das Hotel und sein Personal. Georg ging ein paar Schritte und spuckte den nach Magensäure und Hunger schmeckenden Speichel in hohem Bogen über den Stolperdraht.
An diesem Morgen lernten sie auch die Latrinen des Lagers kennen. Sie befanden sich an der Längsseite des Zaunes zum Rhein hin und bestanden aus einem etwa metertiefen Graben, den ein Bagger ausgehoben hatte. Der Aushub war gnädigerweise auf der dem Lager zugewandten Seite des Grabens aufgeworfen worden und diente so als Schamschutz. Der Graben war von den Gefangenen zunächst gar nicht wahrgenommen worden, und bis dahin hatten sie über den Stolperdraht gepinkelt. Da Mägen und Därme leer waren, war die Frage, wo man scheißen könne, gar nicht erst aufgekommen. Irgendjemand hatte an diesem Morgen dann aber doch die Frage nach der Latrine gestellt. Nicht, dass er sie benutzen wollte; die Frage war nur gestellt worden, um irgendeinen Anlass für ein Gespräch zu haben. Nun wurde die Anlage begutachtet. Sie war etwa vierzig Meter lang und so breit, dass sich ein Mann mit gespreizten Beinen darüberstellen konnte, um seine Notdurft zu verrichten. Die Männer sahen sich verblüfft an. Witze wurden gerissen. »Das ist das längste französisch Klo, das isch je gesäen abe!« Gelächter.
Sie beschlossen, die Latrine gemeinsam einzuweihen. Dazu stellten sie sich in langer Reihe vor den Graben und pinkelten auf Kommando hinein. Einer rief: »Wir taufen dich auf den Namen ›Große Arschspalte‹!« Allgemeine Zustimmung.
»Bei dem Ding muss man beim Scheißen aber genau zielen, sonst scheißt du dir in die Schuhe!«
»Man muss auch einen festen Stand haben, wenn die Ränder glitschig sind, rutschst du aus, und du stehst in der Scheiße!«
Immer neue Möglichkeiten und Gefahren bei der Benutzung des Grabens wurden erörtert. Dann schwand das Interesse, und sie gingen zurück zu ihren Löchern, um weiterzuarbeiten. Inzwischen war auch das letzte Wasser aus dem Kanister aufgebraucht. Der Gummisack hing schlaff an seinem Gestell und war nicht wieder aufgefüllt worden. Georg hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, was schlimmer war – Hunger oder Durst. Aber bald wusste er es: Sein Hals wurde trocken, und seine Zunge schwoll an und lag im Mund wie dick aufgequollene Pappe.
Es war widersinnig. Rechts floss der Rhein, und um sie herum war Regen. Sie waren von Wasser umgeben und konnten doch nicht trinken! Einige verfielen auf eigenartige Methoden, um ihren Durst zu stillen. Sie nahmen dabei groteske Haltungen ein, die schnell kopiert wurden. Einem zufälligen Zuschauer boten die durstigen Männer ein Panoptikum der Lächerlichkeit. Sobald der Regen heftiger wurde, stellten sich ihm einige Gefangene mit offenem Mund entgegen und versuchten aus der Luft zu trinken. Andere hielten ihre Kochgeschirre in den Regen oder spannten Taschentücher auf und saugten das Wasser heraus. Eine andere Methode war das »Zelte melken«. Dabei wurde der Regen, der an den paar verbliebenen Zeltwänden herablief, in Kochgeschirren aufgefangen.
Endlich, nach drei Tagen – oder waren es schon vier? – kam ein kleiner Lastwagen, der von einem Jeep begleitet wurde, an ihren Drahtverhau heran. Der Verhau wurde geöffnet und der Lastwagen rumpelte rückwärts in die Lücke. Ein paar GIs sprangen lärmend heraus und öffneten die Ladeluke.
Diesmal beeilte sich keiner der Gefangenen. Langsam, teils schon aus Schwäche, aber auch, weil sie befürchteten, wieder enttäuscht zu werden, näherten sie sich dem Lastwagen. Die GIs hatten inzwischen aus einigen Kisten und einem darüber gelegten Brett einen Tisch improvisiert. Andere füllten den Gummisack wieder mit Wasser.
»Ich glaube es ja nicht! Diesmal gibt es wirklich was zu essen!« Schulte war begeistert.
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