Eine Öllampe warf unruhiges Licht in die Kammer und beleuchtete Geryim, der mit überkreuzten Beinen und verbissener Miene auf den Segeln saß. Sein Blick war auf einen Lederharnisch in seinem Schoß gerichtet. Er kämpfte darum, eine Ahle durch das feste Material zu treiben, und noch bevor Sothorn ein Wort sagen konnte, rutschte Geryim ab und jagte sich die Spitze in den Daumen.
»Lach bloß nicht«, knurrte er, während er sich das Blut ableckte. »Irgendwann werfe ich dieses Miststück über Bord und dann hat es sich mit abbrechenden Nadeln und viel zu dicken Fäden.«
Sothorn wunderte sich nicht, dass Geryim ihn bemerkt hatte. Man schlich sich nicht an einen Assassinen heran und schon gar nicht auf einem Schiff, das jeden Schritt mit einem Knarren beantwortete.
»Lass das lieber. Es ist ein guter Harnisch. Wenn du nicht damit zurechtkommst, gib ihn mir. Ich bringe die Nähte wieder in Ordnung.«
Geryim brummte etwas Unverständliches, bevor er endlich aufsah. Seine gelben Raubvogelaugen schimmerten im Licht der Öllampe und die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Sind wir schon so weit gekommen, dass du mir die Näharbeiten abnimmst?«
Sothorn zog eine Augenbraue hoch und bemühte sich um Gelassenheit, auch wenn sein Herzschlag angesichts von Geryims leichtherzigem Tonfall freudig zugelegt hatte. »Ein Wort darüber, dass ich ein wunderbares Eheweib abgeben würde, und ich trete dir noch mal in den Hintern.«
Geryim hatte ihm bei einer früheren Gelegenheit erklärt, dass bei den Wargssolja bestimmte Arbeiten rund um die Jagd nach Geschlechtern verteilt wurden. Während die Männer sich des Fleisches und der Innereien der Beutetiere annahmen, verarbeiteten die Frauen Häute und Knochen. Und da er es natürlich nicht hatte lassen können, Sothorn für sein Geschick bei der Lederverarbeitung aufzuziehen, hatten sie sich so lange geprügelt, bis sich Geryim lachend ergeben hatte. Erst hinterher war ihm eingefallen, Sothorn mitzuteilen, dass es bei den Wargssolja keine niederen Arbeiten gab und die Frauen ebenso fähige und starke Jägerinnen waren wie die Männer. Die anschließende Versöhnung war schweißtreibend ausgefallen und zählte zu einer der besten Nächte in Sothorns Leben, wenn man von dem unvermeidlichen Abschiedsschmerz absah, der ihr gefolgt war.
Prompt grinste Geryim. »Ich erinnere mich an das letzte Mal. Und ich kann nicht behaupten, dass es mir nicht gefallen hat.« Er sah sich in der Kammer um. »Was meinst du? Könnte schlechtere Orte geben…«
Nun war Sothorn tatsächlich versucht, ihn zu treten. Erst zog Geryim für ein lebensgefährliches Ritual allein und ohne Ausrüstung in den Wald, dann kehrte er halb erfroren und verletzt zurück, sodass sie seinen neuen Status als Mann nicht angemessen feiern konnten, nur um anschließend bis in den späten Vormittag hinein zu schlafen und ausgerechnet jetzt wollte er Sothorn auf die Segel ziehen? Obwohl sie in der Messe erwartet wurden?
Es war zum Aus-der-Haut-fahren.
»Aber deutlich bessere Zeitpunkte«, widersprach Sothorn fest. In ihm sah es anders aus: Wie lange würden sie schon brauchen? Bei ihm würde es sicher nicht lange dauern. Dafür hatte es ihn gestern zu viel Beherrschung gekostet, lediglich Geryims Wunde zu versorgen, statt über ihn herzufallen.
Geryim zog skeptisch die dichten Brauen zusammen. »Wieso? Wirst du oben gebraucht?«
»Du hast die Versammlung vergessen«, stellte Sothorn fest.
»Eher verdrängt«, murmelte Geryim, bevor er den Lederharnisch beiseitelegte und ungewohnt ungelenk auf die Beine kam. »Aber von mir aus: Bringen wir es hinter uns.«
Sothorn ließ Geryim den Vortritt, sich durch die Luke in den Gang zu quetschen. Kaum, dass er ihm gefolgt war, wurde er erst am Handgelenk, dann an der Schulter gepackt und hart gegen die nächste Wand geschubst. Einen Augenblick später stand Geryim dicht vor ihm und drückte ihm den Mund gegen die Schläfe. Mit den Lippen an Sothorns Haut raunte er: »Das wird der letzte Aufschub. Wir lassen sie reden und dann verschwinden wir. Und wenn das Schiff in Flammen steht: Wir werden feiern.«
Sothorn legte erleichtert die Hände um Geryims Gesicht und zerrte ihn in einen kurzen, aber umso hitzigeren Kuss. Nachdem sich ihre Lippen wieder getrennt hatten, zischte er halblaut: »Ich nehme dich beim Wort. Du bist mir etwas schuldig, nachdem ich dir gestern das Blut dieses Wildschweins abwaschen musste.«
Er hatte es halb im Scherz gesagt. Umso überraschter war er, als Geryim ihn eindringlich musterte und dann langsam nickte. »Das bin ich. Und zwar viel mehr, als dir je bewusst sein wird.«
Seine Worte sowie sein aufrichtiger Tonfall brachen mit einer solchen Wucht über Sothorn zusammen, dass er überzeugt war, etwas in sich bersten zu spüren. Geryim machte nur selten Zugeständnisse, aber wenn er es tat, konnte man sich auf sie verlassen. Wenn er nun wirklich wiedergutmachen wollte, dass er Sothorn monatelang nach geteilter Leidenschaft allein gelassen hatte – allein lassen musste, um die Gesetze seines Volkes nicht zu brechen –, standen ihnen gute Zeiten bevor. Ihnen beiden.
Zumindest, sobald sie das Problem gelöst hatten, das sie alle ins Unglück stürzen konnte.
* * *
In der Schiffsmesse herrschte Unruhe. Alle redeten aufeinander ein. Viele hielt es nicht länger auf ihren Plätzen. Cregh, der sich gegen Ende seines Zyklus befinden musste, hielt sich den Kopf und sah aus, als würde er jeden Augenblick jemandem die Kehle aufschlitzen.
»Könnt ihr vielleicht noch mal kurz die Schnauze halten?«, bellte Theasa in die Menge. Sie saß mit angezogenen Beinen auf einem Tisch am Durchgang zur Kombüse. Weder in ihrer Miene noch in ihrem Tonfall war die unsichere Frau zu erkennen, mit der Sothorn sich am Morgen unterhalten hatte.
Die Gespräche ebbten ab. Alle Blicke richteten sich nach vorn.
»Geht doch«, murrte Theasa halblaut. Sie sah von einem zu anderen. »Glaubt nicht, dass ich nicht weiß, was ich von euch verlange. Oder dass ich mir der Gefahr nicht bewusst bin. Allerdings hat mich heute Morgen jemand zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass wir gar keine andere Wahl haben. Ich weiß, jeder halbwegs vernünftige Mensch und anständige Bürger wird behaupten, dass das, was wir vorhaben, unmöglich ist. Aber ich sage, dass wir es schaffen können. Weil wir weder anständige Bürger noch vernünftige Menschen sind!«
Zum ersten Mal waren Laute der Zustimmung und sogar Gelächter zu vernehmen. Geryim, der Seite an Seite mit Sothorn an der Schiffswand lehnte, schnaubte und raunte, dass Theasa von den Kampfrednern in der Arena von Auralis viel gelernt hätte.
»Es wird nur darauf ankommen, dass wir zusammenarbeiten, wie wir es nie zuvor getan haben. Mit Gewalt allein werden wir nicht ans Ziel kommen. Mein Schlachtplan baut auf jeden Einzelnen von euch und…«
Ein höhnisches Auflachen unterbrach sie. »Auf jeden Einzelnen?« Shahims Stimme schnitt durch den Raum. »Auch auf mich? Was sieht dein Plan für mich vor? Soll ich die Gallionsfigur geben?«
»Bei Insa…«, ächzte Kara und auch Sothorn musste ein Seufzen unterdrücken. Er sah sich zu Shahim um, der in der hintersten Ecke auf einer Bank saß und das verletzte Bein auf einen Schemel gebettet hatte. Verschwunden war der lebenslustige Oramba, der trinken, tanzen, lachen und Geschichten erzählen konnte wie kein Zweiter. Zurückgeblieben war ein Mann, der an seinem Wert zweifelte und sich jeden Tag im Stillen oder auch laut hörbar fragte, warum die Bruderschaft ihn weiterhin durchfüttern sollte.
»Nein, Shahim«, antwortete Theasa überraschend sanft, was in ihrem Fall immer noch klang, als würden Steine einen Abhang herunterpoltern. »Du, Nouna und Lilianne… Ihr werdet die vielleicht größte Verantwortung übernehmen.« Sie zögerte und sah sich zu den beiden Frauen um. »Selbst der narrensicherste Plan kann fehlschlagen. Und wenn er das tut, werden wir nicht nur unser Leben, sondern auch die Henkersbraut verlieren.«
Читать дальше