Ihr Blick traf auf geschwungene Buchstaben, die sich dunkelgrün vom gelblichen Untergrund abhoben. Im Gegensatz zu den Werken in der Bibliothek handelte es sich nicht um die Arbeit eines Meisters, der sorgsam Wort für Wort zu Papier brachte. Stattdessen ergoss sich die Schrift so ungestüm und schief über das Pergament, als wäre der Text in großer Eile verfasst worden.
Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, begann Thalid zu lesen. Anfangs waren es nur einzelne Satzfragmente, die auf sie eindrangen. Dann, als sie merkte, dass es sich um eine Geschichte statt um ein alchemistisches Rezept oder die Anleitung eines Zaubers handelte, ließ sie sich von ihr gefangen nehmen.
… schien es fürwahr, als wäre das ganze weite Land ihr Tummelplatz, die saftigen Wiesen der Südländer wie die weiten Wälder des Nordens. Unter ihrer Hand gedieh, was wachsen wollte, und blühte, was sie erfreute. Ihre Gedanken waren von einer solchen Kraft und Reinheit, dass sie weithin trugen und jedes Herz, das sie berührten, veränderten. Es lässt sich zweifelsohne sagen, dass sich nie eine größere…
Das Buch schlug zu. Thalid, die ihm mit der Nase ähnlich nah gekommen war, wie Barim es zu tun pflegte, sprang rückwärts. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, sah sie sich Venika gegenüber. Sie erschrak angesichts des unverhohlenen Zorns in den Augen der Magierin.
»Wie kannst du es wagen?«, fuhr Venika sie an. »Wie kannst du es wagen, dich an meinen ältesten Schriften zu vergreifen? Ihre Schließen aufzubrechen? Dir Wissen anzueignen, das dir nicht zusteht?«
Thalid öffnete den Mund, um zu erklären, dass sie das Buch keineswegs aufgebrochen, sondern beschädigt aufgefunden hatte. Und dass sie nie vorgehabt hatte, sich an Venikas Sammlung zu vergreifen, sondern lediglich wie befohlen für Ordnung hatte sorgen wollen.
Doch etwas in der Miene der Magistra lähmte ihre Zunge.
Venika sprach jetzt gefährlich leise. »Ich habe dich unter meinen Flügel genommen. Ich habe dich an meiner Arbeit teilhaben lassen und dafür gesorgt, dass deine Anwesenheit in diesen Hallen einen Sinn ergibt. Und so dankst du es mir? Indem du hinter meinem Rücken umherstöberst?« Sie warf den Kopf zurück und sah auf Thalid herab, was kaum möglich sein sollte, da sie ein gutes Stück kleiner war und zudem im Gegensatz zu Thalid nicht auf dem Holzpodest stand. »Wenn du nach all den Jahren immer noch nicht gelernt hast, dass es nicht nur dumm, sondern schlichtweg gefährlich ist, sich verbotenes Wissen anzueignen, ist in dieser Werkstatt kein Platz für dich.« Sie deutete mit dem Daumen über die eigene Schulter. »Verschwinde, Thalid. Und komm nicht wieder, bevor ich dich nicht rufe. Fürs Erste will ich dich nicht mehr sehen.«
In Thalid war während Venikas Vorhaltungen ein gefährlicher Strudel entstanden. Etwas in ihr schrie und fauchte und drängte nach vorn. Es wäre ihr ein Leichtes, einen winzigen Teil davon aus sich herausströmen zu lassen. Danach wäre all das Wissen, das Venika so eifersüchtig für sich behalten wollte, für immer vor fremdem Zugriff sicher. Zerstört. Zusammen mit der Magistra selbst, dem Turmzimmer und wahrscheinlich dem ganzen Hort.
Aber Thalid beherrschte sich. Vielleicht, weil neben dem Feuer auch eine Menge wässriger Traurigkeit in ihr waberte.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.