Ein Tropfen rollte von Thalids Nase und fiel ins Schmutzwasser. Im ersten Augenblick hielt sie ihn für eine Träne. Dann wurde ihr bewusst, dass das Wasser um ihre Hände brodelte und sich Dampf auf ihrem Gesicht abgesetzt hatte. Erschrocken besann sich Thalid ihrer Lektionen in Selbstbeherrschung und schloss den Quell, der ungebeten in ihr aufgesprungen war.
Während das Wasser abkühlte, sah sie sich verstohlen um. Venika schien nichts von dem Zwischenfall bemerkt zu haben. Das war wenigstens ein kleiner Segen. Als Thalid sich wieder den Mörsern zuwandte, stellte sie fest, dass zwei von ihnen durch die Hitze verformt worden waren.
Die folgenden Stunden verbrachte sie mit einer Reihe Arbeiten, die eher in einen Handwerksbetrieb als in eine Akademie passten. Sie schnitt die gelblich schimmernden Schoten getrockneter Pflanzen auf, gab sie in die kleine Ölpresse und drehte die Kurbel so lange, bis ihr von den aufsteigenden Gerüchen die Augen tränten. Sie holte Feuerholz aus dem Zwischenlager auf der vierten Ebene, half Venika, die Fassung für einen verzauberten Goldring zu gießen, und schrieb mehrere Rechnungen für geleistete Dienste. Die Anbringung eines szeneda – einer Dämonenfratze, die bei Einbruch zu schreien begann – an der Tür eines Geldverleihers hier, die Anfertigung eines Talismans, der seinen Träger gegen Gifte schützte, dort. Das tägliche Einerlei einer Akademie, die sich dem Geld verschrieben hatte.
Gegen Mittag zeigte Venika Mitleid mit dem laut knurrenden Magen ihrer Gehilfin und sandte eine Nachricht in die Küche. Kurz darauf verspeisten sie gemeinsam ein deftiges Mahl aus frischem Brot, Käse und einem Eintopf, der so dick war, dass beinahe die Löffel darin stehen blieben. Thalid gab sich Mühe, nicht allzu sehr zu schlingen, aber Venikas feines Lächeln verriet, dass es ihr nicht gelang. Dass die Magierin während des Essens mit ihr über den neuesten Tratsch aus der Arena sprach, entschädigte sie jedoch. Offensichtlich war ihr das Zuspätkommen verziehen worden.
Obwohl Thalids Stundenplan vorsah, am Nachmittag gemeinsam mit anderen Novizen ins Labyrinth zu gehen und ihre erbärmlichen Schwebezauber zu verbessern, bat Venika sie, bis zum Abend zu bleiben. Es stünde zu viel Arbeit an und sie wisse nicht, wie sie diese ohne Hilfe bewältigen solle.
Thalid stimmte dankbar zu. Zum einen blieb ihr dadurch ein Nachmittag voller Demütigungen erspart. Zum anderen war dies einer der wenigen Augenblicke, in denen sie einen Sinn in ihrer Anwesenheit in der Akademie sah.
Sollten die anderen doch behaupten, dass Venika sie nur deshalb bei sich haben wollte, weil sie sich gern mit hässlichen Kröten umgab, um selbst heller zu strahlen. Oder dass sie, die für ihre Liebe zu Männern und Frauen gleichermaßen bekannt war, nur dann konzentriert arbeiten könne, wenn ihre jeweilige Hilfskraft keine Verlockung darstellte. Beides mochte stimmen.
Aber Venika hatte sie, die nutzlose Thalid, gebeten, länger zu bleiben, damit sie ihre Aufträge pünktlich ausliefern konnte. Das konnte ihr niemand wegnehmen.
Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als der letzte Halbedelstein mit einem mächtigen Verschleierungszauber besprochen war. Venika verstaute die Halskette behutsam in einem Kästchen aus matt schimmerndem Holz und ließ mit einem leisen Seufzen den Deckel zufallen.
»Das wäre geschafft«, verkündete sie. Unter ihren ausdrucksstarken Augen zeigten sich Schatten. Sie hatte über den Tag Unmengen ihrer Kraft in ihre Werkstücke einfließen lassen. »Lass uns noch Ordnung in das Durcheinander bringen, dann soll es gut sein.«
Thalid ging zu der Wandvorrichtung mit den langen Hebeln, um die Luken im Dach zu schließen. Das Feuer in der Esse war bereits erloschen, die letzten Tränke von der Flamme genommen worden. Nur eine Handvoll Kerzen brannten in ihren Seen aus Wachs und warfen tanzende Gestalten auf die Bücherregale.
Venika übernahm es selbst, die Tische von Steinstaub und anderen Überbleibseln ihrer Arbeit zu befreien. Thalid wusch ein zweites Mal an diesem Tag sämtliche verschmutzten Gefäße ab. Bis sie damit fertig war, war die Sonne untergegangen und sie zu ihrer Überraschung allein im Turmzimmer. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich um, ob Venika nicht doch in einer dunklen Ecke zugange war. Doch als sie sie nicht entdeckte, zuckte sie die Schultern und setzte ihre Arbeit fort. Bis auf das Holzpodest mit dem Stehpult hatten sie inzwischen alle Bereiche aufgeräumt.
Also nahm Thalid sich der zahlreichen, in Leder gebundenen Folianten an und sortierte sie in die im Raum verteilten Regale ein. Zum Glück war keines von ihnen so hoch wie jene in der Bibliothek, sodass sie die obersten Bretter auch ohne Hilfe eines Zaubers erreichen konnte. Mehr als einmal hielt sie inne, um einen Titel zu lesen, oder ein Buch beiseitezulegen, weil sein Einband dringend der Arbeit eines Buchbinders bedurfte. Papier und Werkstätten, in denen ständig Dampf oder Rauch in der Luft stand, vertrugen sich nicht gut miteinander.
Thalid war fast fertig, als ihr auffiel, dass in einem Regal die ganze unterste Reihe umgefallen war. Ein paar Schriftrollen drohten, in ihren Lederhüllen zerquetscht zu werden. Da sie es nicht eilig hatte, kauerte sie sich auf die Knie und zog die Schriftstücke hervor, um sie neu zu ordnen.
Sie erkannte rasch, dass es sich um auffallend alte Werke handelte. Fasziniert zeichnete sie die geschwungenen Buchstaben auf den Umschlägen und Hüllen nach. Sie waren ihr gänzlich fremd.
Thalid griff blind zum nächsten Buch und wunderte sich, dass ihre Hand etwas Kaltes streifte. Als sie den mächtigen Folianten in ihren Schoss hob, stellte sie fest, dass er seitlich mit einer Schließe versehen war. Die fremdartige Machart weckte ihre Neugier und sie drehte sich zur Seite, damit das Kerzenlicht den Einband besser ausleuchtete. Es fing sich auf der glänzenden Bronze der Schließe, die am Rand den grünen Schimmer des Alters angenommen hatte und darüber hinaus nur noch lose ins Umschlagleder eingelassen war.
Thalid stieß ein ungehaltenes Brummen aus. Die ehrenwerte Magistra Quellfang mochte eine Künstlerin sein, was verzauberte Schmuckstücke und Schutzvorrichtungen anging, aber ihr Umgang mit Büchern war sträflich.
Mit dem Folianten in den Armen stand Thalid auf und ging hinüber zum Stehpult, wo bereits andere beschädigte Bücher auf Rettung warteten. Sie legte ihren jüngsten Fund dazu und wollte sich schon abwenden, als ihr ein paar Kratzspuren in der Schließe auffielen. Sie wirkten zu regelmäßig für eine Beschädigung und bildeten sie nicht ein Zeichen, das ihr vage vertraut war?
Thalid nahm einen nahen Kerzenhalter an sich und hielt ihn näher an das Pult, sorgsam darauf bedacht, dass weder Wachs noch Flamme zu nah ans Pergament gerieten. Im hellen Lichtschein erwies sich die Schließe als noch fremdartiger als zuvor im Halbschatten. Die Bronze selbst schien auf eine Art gegossen zu sein, die Thalid nie zuvor gesehen hatte. Die vermeintlichen Kratzspuren erwiesen sich als eine vom häufigen Berühren abgetragene Schutzrune. Sie sah fast genauso aus wie jene, mit denen Venika Türen und versteckte Durchgänge vor fremden Augen und Zugriffen zu bewahren wusste.
Allerdings ahnte Thalid, dass Rune, Buch und Schließe zu beschädigt waren, als dass der Schutzzauber gehalten hätte. Sie zögerte, dann schob sie zwei Finger unter die Schließe und zog vorsichtig an der fein geschmiedeten Kette, die die Buchdeckel zusammenhielt. Genau wie vermutet gab die obere Hälfte nach und glitt widerstandslos vom Umschlag ab. Das Leder darunter hatte sich so weit zersetzt, dass jeder Versuch, das Buch vor unerwünschtem Zugriff zu schützen, vergebens war.
Eine Schande, dachte Thalid. So viel Mühe und nun scheitert alles daran, dass das Leder verrottet.
Sie strich an der Schnittkante des Buchs entlang. Das Pergament fühlte sich brüchig an. Vielleicht handelte es sich um ein Werk, von dem man besser eine Abschrift anfertigte, bevor es zu Staub zerfiel? Sicherheitshalber schlug sie das Buch auf, um den Zustand der einzelnen Seiten zu prüfen.
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