»Gwanja?«, erkundigte sich Theasa.
Sothorn nickte lächelnd. Es kam häufig vor, dass sich die Verbindung zwischen seiner Löwengefährtin und ihm unerwartet öffnete. Zeugen zufolge zog er dann eine so erstaunte und gleichzeitig liebevolle Miene, dass man sofort wusste, was geschehen war.
»Sie hat sich wieder einmal im Jagen versucht. Aber sie weiß einfach nicht, wie sie es anfangen soll.« Gwanja war inzwischen fast ausgewachsen, hatte aber einen Großteil ihrer ersten Lebensmonate in einem Käfig verbracht. Ihre Mutter hatte ihr nicht zeigen können, wie man sich an eine Beute anschlich, und es waren keine Geschwister da gewesen, mit denen sie sich im Kampf hätte üben können. Entsprechend war sie eine reichlich ungeschickte Jägerin und auf Sothorn angewiesen, wenn sie satt werden wollte.
Theasa seufzte. Vermutlich dachte sie wieder einmal an das viele Silber, das Gwanja sie gekostet hatte. Es fehlte ihnen schmerzhaft. Trotzdem bereute Sothorn nicht, dass sie es ausgegeben hatten. Gwanja gehörte nun zu ihm, war ein Teil von ihm und er wollte sich nicht einmal vorstellen, sie zu verlieren.
Der Gedanke an das Geld brachte ihn jedoch zu der Überlegung zurück, die seine tierische Begleiterin unterbrochen hatte. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Im Grunde ist doch gar keine Entscheidung zu fällen, weder von dir noch von jemand anderem. Du hast es selbst gesagt: Vor uns zeichnet sich nur ein einziger Weg ab. Wir müssen ihn beschreiten. Unser Leben und unser Verstand hängen davon ab. Und sollten wir versagen, ist das sicher nicht deine Schuld. Nichts, von dem, was derzeit geschieht, ist deine Schuld.«
Theasa sah ihn an, als wüsste sie nicht, ob sie ihn ohrfeigen oder umarmen sollte. Letztendlich kauerte sie sich neben ihn und sah hinüber zur Henkersbraut. »Darum geht es mir nicht«, erklärte sie leise. »Glaub mir, ich habe genug Schuld angehäuft, um ein Dutzendmal gehenkt zu werden. Ich möchte nur keinen von euch mehr verlieren. Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen. Auch um Janis' willen.«
Für eine Frau, die sich oft bärbeißig gab und der Gefahr lachend in den Hintern trat, war das ein großes Eingeständnis. Sothorn würde es gewissenhaft für sie bewahren.
Sacht stieß er sie mit dem Ellbogen an. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass wir so sauber arbeiten wie niemals zuvor. Und wenn Blut fließen muss, dann hoffentlich nicht unseres.«
Theasa legte ihm die Hand auf den Arm, als suche sie einen Anker. Ihre Finger waren kälter als seine Haut je werden konnte.
* * *
Sothorn vertrieb sich die letzten Stunden vor der Abfahrt und geplanten Versammlung, indem er ein Stück die Küste entlangwanderte. Gwanja begleitete ihn, auch wenn sie sich im Schutz des Waldes bewegte und nur selten unter freiem Himmel auftauchte.
Durch die weit offenen Tore seines Geistes spürte er ihren Widerwillen. Sie hatte längst begriffen, dass sie aufs Meer zurückkehren und sich wieder dem beständigen Schaukeln und Kreischen der Seevögel aussetzen würden. Dichte Wälder wie dieser waren ihr fremd genug. Das Meer dagegen versetzte sie geradezu in Empörung. Wasser, das man weder überspringen noch trinken konnte, war nicht richtig.
Als sie zur Landestelle zurückkehrten, ertappte sich Sothorn dabei, dass er die verbliebenen Menschen am Strand enttäuscht musterte. Er war davon ausgegangen, dass Geryim ihn erwarten würde. Oder zumindest hatte er es sich so fest gewünscht, dass aus der Hoffnung eine Gewissheit erwachsen war.
Sie hatten seit dem Abend kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wäre nicht der Kuss gewesen, mit dem ihn Geryim beim Verladen des Frischwassers unversehens überfallen hatte, hätte sich Sothorn gefragt, ob die vergangene Nacht und der Morgen danach ein Traum gewesen waren.
Es brauchte etwas Überredung, um Gwanja an Bord zu schaffen. Geduckt wie ein widerwilliges Kind trabte sie die Planke hinauf. Kaum an Deck angekommen, schlich sie auf eine der Treppen zum oberen Laderaum zu und verschwand im Bauch des Schiffs. Das letzte Gefühl, das Sothorn von ihr empfing, bevor sich ihre Verbindung schloss, war Missmut.
»Schlechte Laune, was?«, fragte jemand hinter ihm.
»Kann man sagen.« Er drehte sich um und entdeckte Kara, die halb gebeugt unter dem Gewicht einer gewaltigen Taurolle auf ihn zuwankte. Rasch trat er zu ihr, um ihr die Last abzunehmen und neben dem Hauptmast auf das Deck sinken zu lassen.
»Ich kann es ihr nicht verübeln.« Keuchend strich sich Kara den Schweiß von der Stirn. »Ich habe es auch satt. Wenn wir nicht bald länger als drei Tage festen Boden unter den Füßen haben, werfe ich mich den Fischen zum Fraß vor.«
»Dich oder Shahim?«, rutschte es Sothorn heraus. Manchmal vergaß er nach längerer Verbindung zu Gwanja, zu menschlichen Verhaltensweisen wie Takt und Höflichkeit zurückzukehren.
Zum Glück nahm Kara selten etwas übel; nicht einmal dann, wenn man einer offenen Wunde zu nah gekommen war. »Das ist mir egal, aber einen von uns wird es bestimmt treffen. Ich kann ja verstehen, dass er nicht eben guter Laune ist. Er wird mindestens genauso schnell seekrank wie Gwanja und kotzt auch genauso viel, sobald die Küste außer Sichtweite ist. Ich wünschte nur, er würde ab und zu einmal lächeln oder zumindest ein bisschen weniger jammern.« Sie verdrehte die Augen, lachte jedoch dabei.
Sothorn bewunderte sie. Zwar schimpfte sie ab und zu über Shahims Sturheit und Wehleidigkeit, aber letztendlich war ihr in jeder Geste und jedem Wort, ja, selbst in ihren Beschimpfungen anzumerken, wie froh sie war, ihn noch an ihrer Seite zu haben.
Es ist nicht nur Bewunderung, ging ihm auf. Es ist auch ein bisschen Neid dabei.
Als wüsste Kara, in welche Richtung seine Gedanken sich davongemacht hatten, meinte sie: »Übrigens, Theasa will anfangen. Und ich fürchte, unser ehrenwerter Wargssolja hat sich in irgendeine Ecke verkrochen und vergessen, dass wir zusammenkommen wollten. Gehst du ihn suchen oder soll ich Syv ein paar Federn rauszupfen, um Geryims Aufmerksamkeit zu erregen?« Sie deutete auf den Blauschwanzadler, der sich auf halber Höhe zum Krähennest niedergelassen hatte und sie kühl zu mustern schien.
Sofort stieg Widerwillen in Sothorn auf. Dabei war es nicht einmal sein Gefährtentier, um dessen Unversehrtheit es ging. Er konnte sich nur allzu gut den Schrei vorstellen, den Syv in Geryims Kopf ausstoßen würde, sollte ihm Kara zu Leibe rücken. »Lass nur. Ich suche ihn und stoße dann mit ihm zu euch.«
»In Ordnung.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und guck nicht so. Ich behalte meine Hände bei mir. Selbst wenn ich Geryim ans Leder wollte, würde ich unseren Syv nicht anrühren. Das überlasse ich lieber dir. Du bist der Einzige, der so etwas überleben dürfte.«
Bevor Sothorn ihr einen spielerischen Hieb versetzen konnte, sprang sie aus seiner Reichweite. Seine Wangen fühlten sich warm an. Das war inzwischen immer der Fall, wenn er daran erinnert wurde, dass er Syv einst durch einen wütend davon geschleuderten Dolch verletzt hatte. Er hatte bald begriffen, dass dies in Geryims Augen ein Akt unnötiger Grausamkeit gewesen war. Doch erst, seitdem er mit Gwanja verbunden war, wusste er, wie es sich anfühlte, wenn das eigene Gefährtentier in Gefahr war, und welche Hilflosigkeit damit einherging.
Auf dem Weg in den Bauch der Henkersbraut begegneten ihm viele seiner Brüder und Schwestern. Die meisten wanderten bereits der Schiffsmesse entgegen. Nur die Kinder stoben wie gefangene Glühwürmchen durch die engen Gänge und erkundeten von Neuem ein Schiff, das sie erst vor wenigen Tagen mit derselben Begeisterung geräumt hatten.
Es dauerte nicht lange, bis Sothorn fündig wurde. Wie vermutet hatte Geryim sich in den winzigen Raum unterhalb der Kombüse zurückgezogen, in dem die überzähligen Segel gelagert wurden. Man konnte ihn nur durch eine lächerlich enge Luke erreichen, die den meisten Vorbeigehenden nicht einmal auffiel. Es war ein guter Ort, wenn man seine Ruhe brauchte und sie nirgendwo anders finden konnte.
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