1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 »Eigenartige Reihenfolge«, knurrte Szaprey aus den Schatten der Tür. Wie so oft hielt er sich möglichst weit von ihnen fern, als wollte er betonen, dass er niemals ganz zu ihnen gehören würde.
Theasa ignorierte den Einwurf. »Ich weiß um eine kleine Insel. Sie liegt dicht genug am Festland, um es im Ernstfall immer noch mit einem Beiboot erreichen zu können. Wir werden euch eines vor Ort lassen. Ich möchte, dass ihr drei dort auf uns wartet. Zusammen mit den Kindern, den Pferden und dem restlichen Lotus.«
Dass niemand protestierte, bewies, wie sehr sie sich der Gefahr bewusst waren, in die sie sich begeben würden. Auch Shahim schwieg und Sothorn konnte nur hoffen, dass er erkannte, wie viel Vertrauen man ihm entgegenbrachte. Sollten sie scheitern und in alle Winde verstreut werden, wäre es in Zukunft an ihm, Nouna und Lilianne, sich Tills, Gillas und all der anderen Kinder anzunehmen. Das war keine Aufgabe für Feiglinge.
Sothorn lag die Frage auf der Zunge, ob sie nicht auch Janis auf der Insel lassen sollten. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass Theasa sich diese Frage sicher bereits gestellt und anders entschieden hatte. Trotzdem ahnte er, dass in Wahrheit Janis der Einzige unter ihnen sein würde, der keine tragende Rolle bei dem nahenden Angriff spielen würde.
»Geryim und Sothorn, die Hauptlast des Geschehens wird auf euch ruhen.«
Geryim zog einen Mundwinkel in die Höhe. »Soll mir recht sein. Auch wenn ich ahne, dass es eher Syv ist, auf den du baust.«
»Ohne ihn würden wir es wahrscheinlich nicht schaffen«, gab Theasa zu. Sie lächelte spröde. »Aber das gilt wie gesagt für jeden von uns.«
»Wann brechen wir auf?«, wagte Sothorn zu fragen. Zu seiner Erleichterung waren die Zweifel in den Augen ihrer Mitstreiter gewichen und hatten grimmiger Entschlossenheit den Platz überlassen; die Angst hielt sich in Grenzen oder wurde gut verborgen.
Theasa drückte den Rücken durch. »Sofort. Wir werden rund eine Woche brauchen, bis wir die Insel erreicht haben, auf der wir die Kleinen in Sicherheit bringen. Wenn der Wind richtig steht, werden wir einen Tag später an der Stelle sein, an der wir euch zwei absetzen müssen.« Sie hielt inne und Sothorn hatte den Eindruck, dass alle gemeinsam mit ihr den Atem anhielten. »Sobald ihr euren Auftrag erfüllt habt, greifen wir Zenja an.«
Staub und Schriftrollen
Der Sturz überraschte Thalid auf der letzten Schrittlänge. Im einen Moment fühlte sie sich sicher, im nächsten war es um sie geschehen. Sie ruderte mit dem Armen, riss im Fallen ein halbes Dutzend Schriftrollen aus dem Regal und schlug einen Augenblick später auf dem Steinboden auf. Ihr Aufprall hallte wie Donner in der hohen Bibliothek wider und schien sich böswillig in den Galerien zu verfangen, damit auch jeder noch so konzentrierte und angestrengt arbeitende Novize den Kopf hob.
Da es Thalid leider nicht gelungen war, sich wieder auf den Füßen zu fangen und sie auf allen vieren gelandet war, brannten ihre Handflächen und Knie. Das war jedoch nichts gegen die verlegene Hitze, die sich in ihrem Körper ausbreitete, und drohte, an die Oberfläche zu schlagen.
»Unser Wüstentrampel wieder«, zischelte ein Vorübergehender. Hinter einem gewaltigen Stapel schwankender Bücher war der Spötter nicht zu erkennen. »Du solltest es endlich einsehen, Thalid. Unter den Schaustellern am Ganija-Tempel wärst du besser aufgehoben als hier. Es heißt, sie suchen einen neuen Narrenkönig.«
Thalid hätte gern etwas erwidert, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, hastig die verstreuten Schriftrollen einzusammeln und durch die Hitze in ihrem Bauch hindurchzuatmen. Sie hatte heute bereits genug Aufmerksamkeit erregt. Da konnte sie es nicht gebrauchen, dass ihr ein Funke von der Hand sprang und die altehrwürdige Bibliothek der Ikir-Akademie in Flammen aufgehen ließ.
Unverhohlenes Gelächter und zotige Bemerkungen verfolgten sie, als sie mit gesenktem Kopf an ihren Platz zurückkehrte. Sie hasste die langen Arbeitsstunden zwischen den turmhohen Bücherregalen, während denen sie ihren Mitschülern nicht ausweichen konnte. Im Unterricht sorgte der jeweilige Magister für Ruhe, sodass sie in den Lehrsälen vor Anfeindungen sicher war. Dasselbe galt für ihre kleine Schlafkammer oder ihre Ausflüge in die Stadt. Doch die Bibliothek…
Thalid erreichte ihren Platz in einer der Nischen unterhalb der halbrunden Fenster. Obwohl das Sonnenlicht durch die Buntglasscheiben fiel und herrliche Bilder auf die Tische zeichnete, hielten sich die meisten Novizen von diesen Plätzen fern. Die Akademie und insbesondere die Bibliothek waren alt und die Fenster schlossen längst nicht mehr so zuverlässig, wie es kurz nach ihrem Einbau der Fall gewesen sein musste.
Nachdem Thalid auf ihren gepolsterten Stuhl gesunken war, betrachtete sie die Lederrolle in ihren Händen. Sie nahm die feinen Schriftzüge auf der Hülle jedoch kaum wahr. Dafür war ihr Blick zu verschwommen; etwas, das sie weit mehr ärgerte als ihr Sturz. Sie hatte vor langer Zeit ihren Frieden damit gemacht, dass ihr die Geheimnisse mancher Zauber nie aufgehen würden. Genauso hatten ihre Lehrmeister es aufgegeben, sie in bestimmten Formen der Magie unterweisen zu wollen.
Das letzte Mal, als man sie auf einen Krankenbesuch mitgenommen hatte, hatte sie den kleinen Jungen beinahe umgebracht. Dabei hatte sie sich genauestens an die Anweisungen des alten Weihenstetten gehalten. Sie hatte die Essenz des Milchmoos mit altem Brot und versteinerten Muschelresten vermengt und jede Zutat dreimal abgewogen. Sie hatte die entzündete Wunde sorgfältig gereinigt und mit dem angerührten Brei bedeckt. Und bevor sie den Zauber gewirkt hatte, war sie in sich gegangen und hatte sich auf den Jungen eingestimmt. Aber die Wunde war nicht abgeheilt und die Fäulnis nicht verschwunden. Stattdessen war das Fieber des Kleinen innerhalb weniger Minuten so sprunghaft gestiegen, dass beinahe sein Herz ausgesetzt hätte. Nur das rasche Eingreifen Magister Weihenstettens hatte Schlimmeres verhindert. Seitdem durfte sie sich Kranken und Verletzten nicht mehr nähern, geschweige denn versuchen, ihnen Linderung zu verschaffen.
Nach einem kurzen Blick in die Runde stützte Thalid einen Ellbogen auf den Tisch und tupfte sich im Schutz ihres Unterarms die Augen.
Nein, es brach ihr nicht länger Herz und Stolz, dass sie nie eine Heilerin sein würde. Dass sie nie so viel Macht über den Wind gewinnen würde, dass die Akademie sie an die Handelsherren verlieh, um deren Schiffe durch die Flauten vor Inahain zu bringen. Sie musste dankbar sein, dass man sie überhaupt an der Akademie aufgenommen hatte.
Was ihr zusetzte, war die Geringschätzung, die ihr innerhalb dieser Mauern entgegenschlug. Ihre Mitschüler gaben ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen, wie unzulänglich sie war. Einige der Magister brachten ihr kaum mehr guten Willen entgegen; unabhängig davon, ob sie die höchsten Ränge der Großmeister bekleideten oder dank erfolgreicher Abschlussprüfungen gerade erst zum vollwertigen Magier aufgestiegen waren. Hätte sich nicht Venika ihrer angenommen und sie zu ihrer Gehilfin erklärt, wären ihre Tage gänzlich unerträglich geworden.
Und selbst dieser Wahl haftet ein Makel an, dachte Thalid bitter.
Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte. Manchmal war es der einzige Weg, ihren Kummer im Zaum zu halten. Zu schade, dass sie erst recht dem Hohn der anderen ausgesetzt war, wenn sie ein dermaßen saures Gesicht zog. Für den Moment half der kleine Trick jedoch und sie konnte sich auf ihre Arbeit konzentrieren, um den Schein einer ehrbaren Novizin in den Hallen der einzigen Magierakademie der bekannten Welt zu wahren. Um der Gabe, die man als Kind in ihr aufgespürt und die ihr die Tore zu diesen Hallen geöffnet hatte, gerecht zu werden.
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