»I-S-C. Wer auch immer das getan hat, will uns offenbar eine Botschaft schicken«, schlussfolgerte Kimball.
»Aber was bedeutet das Kürzel – und vor allem: Was soll das Ganze?«, fragte der Papst.
Hayden fuhr flüchtig mit einem Zeigefinger über das Foto und dabei auch über das vierte andere Mitglied, Ian McMullen. Dieser war Ire und hatte allen Klischees seines Schlags entsprechend Alkohol genauso sehr geliebt wie sein AR-15. Auch sein Gesicht war umkreist, aber noch nicht mit einem Buchstaben versehen. »Der Täter geht nicht gerade subtil vor, oder?«
»Kimball, derjenige, der diesen Männern das angetan hat, hat dem SIV die Fotos selbst zukommen lassen. Und er nimmt sich ein Mitglied der Einheit nach dem anderen vor … bis zu ihnen. Demnach weiß er auch, dass Sie hier sind.«
»Das ist unmöglich«, widersprach Hayden. »Alle Personen, die mit jener Einheit in Verbindung stehen – darunter auch die Politiker der US-Regierung – halten mich für tot.«
»Anscheinend doch nicht«, widersprach Pius. »Denn andernfalls gäbe es keinen Grund für den Mörder, diese Fotos zu uns zu schicken.«
Kimball dachte kurz darüber nach. Der Heilige Vater sprach durchaus vernünftig und lag auch richtig mit seiner Vermutung. »Das stimmt, doch was für mich einfach nicht ins Bild passt, ist die Tatsache, dass Grenier und Arruti abgeklärte Kampfsoldaten waren. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine Person, die es auf sie abgesehen hat, beide einfach so überwältigen konnte.«
»Ob es eine oder mehrere waren: Diese Angelegenheit muss unbedingt geklärt werden, bevor diese Person oder Gruppe meint, ihre persönliche Fehde in den Vatikan auszuweiten.«
Kardinal Vessucci trat nun vor den Schreibtisch und lehnte sich vor Hayden an die Kante. »Kimball, das Dumme ist, dass Leviticus gerade mit seinem Team in Brasilien ist, und Jesaja mit seinem in Kolumbien. Ezechiel, Job und Joshua haben ihren Jahresurlaub genommen und kehren erst in zwei Wochen wieder zurück.«
»Das heißt, ich bin ganz allein hier?«
»Wir tun unser Möglichstes, um die drei wieder zurückzubeordern. Der SIV wird sie schon finden.«
»Das kann aber Tage dauern.« Hayden hielt sich das Foto wieder vor die Augen und schaute auf McMullens eingekreistes Gesicht. »Ich habe doch schon ein Team«, fügte er hinzu.
Der Papst beugte sich nach vorn. »Sie reden von Ihrer früheren Truppe, oder?«
»Spricht etwas dagegen? Fünf von uns sind immerhin noch übrig. Das sind mehr als genug für diesen Zweck.«
»Kimball, diese Männer …« Der Kardinal zeigte auf die drei eingekreisten Toten. »… waren Söldner, die Morde für jeden begingen, der ihnen das beste Angebot gemacht hat. Wollen Sie wirklich wieder in Ihr altes Milieu zurückkehren?«
»Sagen wir mal so: Ich möchte anhand dieser leisen Versuchung herausfinden, wie weit ich in meinem Leben tatsächlich gekommen bin. Mal schauen, ob ich vermisse, was ich war … oder zufrieden damit bin, was aus mir geworden ist.«
»Kimball …«
Der Ritter lenkte sofort ein, indem er eine Hand hochhob. »Bonasero, bitte. Dieser Mann …« Er zeigte auf McMullen. »… hat mir zwei Mal das Leben gerettet. Er soll augenscheinlich das nächste Opfer sein, was bedeutet, dass ich unbedingt zu ihm gelangen muss, bevor der Mörder ihn findet. Ich habe also nicht mehr viel Zeit.«
Papst Pius seufzte. »Das gefällt mir ganz und gar nicht Kimball«, sagte er. »Andererseits darf ich unter keinen Umständen wissentlich dulden, dass jemand in Lebensgefahr schwebt. Nichtsdestotrotz werde ich den SIV darauf ansetzen, Ihre Gefährten aus dem Urlaub zurückzurufen und sie schnellstmöglich nachreisen zu lassen, sobald sie gefunden wurden.«
»In Ordnung. Ich muss aber leider sofort aufbrechen und meine ehemaligen Kameraden zusammentrommeln. Dazu brauche ich lediglich die aktuellen biografischen Aufzeichnungen über diejenigen, die noch leben – und muss natürlich auch wissen, wo sie genau sind.«
»Der SIV wird diese Informationen bestimmt gesichtet haben, bis Sie reisefertig sind«, versprach ihm Vessucci.
Hayden stand auf. »Vielen Dank.«
»Und Kimball.« Auch der Papst erhob sich jetzt in seinem vollen Ornat. »Die Versuchung, die Sie erwähnt haben, dass Sie in alte Sitten zu verfallen drohen, führt Sie wieder zu Menschen, die sich für die dunkle Seite entschieden haben. Ich verlasse mich fest darauf, dass Sie standhaft bleiben.«
»Na ja, auf irgendjemand muss ja Verlass sein, oder?«
»Kimball.« Der Kardinal legte ihm jetzt sanft eine Hand auf die Schulter. »Seien Sie bitte vorsichtig. Etwas Unbekanntes zu bekämpfen, dass im Schatten agiert, um nicht gesehen zu werden, ist immer äußerst schwierig.«
»Wenn es aus Fleisch und Blut besteht, kann man es finden. Immerhin hat es auch mich gefunden, nicht wahr?«
»Passen Sie auf sich auf, Kimball«, ergänzte Papst Pius. »Und möge Gott Ihnen beistehen.«
Hayden nickte. Seinen Beistand brauche ich hierbei auf jeden Fall , dachte er, und zwar nicht nur wegen der Gefahr für sein Wohlergehen, sondern auch aufgrund des Risikos, seinen früheren Lebenswandel wieder anzunehmen. Würde er erneut in gleicher Weise wie ein Alkoholiker, der nur einen Tropfen brauchte, um den rechten Weg zu verlassen, wieder auf den Geschmack kommen, einen anderen Menschen zu töten, nur weil er dazu in der Lage war, oder konnte er standhaft bleiben und sich einen Mord nur als allerletzten Ausweg vorbehalten?
Nachdem er dem Kardinal zum Abschied auf die Schulter geklopft und den Fischerring des Papstes geküsst hatte, ging Kimball zu der wuchtigen Doppeltür des Gemachs zurück, wobei seine Schritte gespenstisch widerhallten.
Der Vatikan ordnete bei Alitalia Airlines einen umgehenden Flug von Rom nach Las Vegas im US-Bundesstaat Nevada an. Die Maschine sollte zum Auftanken in Boston zwischenlanden. In Haydens Gepäck befanden sich neben Kleidern in einem Geheimfach seines Koffers auch zwei KA-BAR-Kampfmesser. Bei sich trug er einen gefälschten Reisepass, den ihm die zuständige Behörde im Vatikan ausgestellt hatte, um seine Identität in den Vereinigten Staaten zu schützen, da deren Obrigkeit ihn als nunmehr toten Flüchtigen erachtete. Sollte nun herauskommen, dass er noch lebte und über verwerfliche Machenschaften der Regierung unter früheren Präsidenten im Bilde war – die Morde und Liquidierungen im Inneren, den erheblichen Aufwand zur Vertuschung politischer Verbrechen – würde Kimball höchstwahrscheinlich ins Visier irgendeines Agenten geraten und für immer verschwinden.
Kimball hatte sich in einer der Doppelsitzreihen am Gang in der ersten Klasse niedergelassen. Auf dem Platz neben ihm lag ein offener Dokumentenumschlag, und in den Händen hielt er die Lebensläufe der noch lebenden Mitglieder seiner alten Einheit. Er staunte immer noch darüber, wie rasch der SIV die detaillierten Informationen hatte besorgen können.
Als er kurz zur Seite und aus dem Fenster schaute, sah er den bewegten Wellengang des Atlantik unter der Maschine, die schäumenden Kämme und die weiße Gischt gegen das Meerblau, während der Jumbojet mit fünfhundert bis sechshundert Meilen pro Stunde nach Westen in Richtung USA flog.
Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. Noch vier Stunden bis zur Landung in Boston, danach weitere sechs bis nach Las Vegas; die Zeit reichte gerade so aus, um die Fakten aus den Aufzeichnungen zusammenzutragen, die dick wie ein Buch waren.
Als er sich wieder der Mappe in seiner Hand widmete, verglich er ein altes Foto mit einem neuen des nächsten Opfers: Ian McMullen.
So wie er jetzt aussah, konnte man ihn zurecht als verwahrlost bezeichnen. Auf einem Bild, das laut Datumsangabe weniger als zwei Jahre zuvor gemacht worden war, wirkte der Exsoldat dreißig Jahre älter als in Wirklichkeit. Er war dem Alkohol mittlerweile offensichtlich vollkommen verfallen und zu einem Mann geworden, der seine Seele aufgegeben und weder Ziele noch Hoffnungen hatte.
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