»Hab die Schnalle auf so 'ner Straße zu einem Haus laufen sehen.« Pico starrte auf die Flasche. »Es war eigentlich mehr als ein Haus, eine regelrechte Festung. Dort wohnte irgendein Typ.« Er streckte sich nach dem Wasser aus.
Der Mann zog die Flasche zurück. »Was für ein Typ?«
»Keine Ahnung.« Pico fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen. »Er war wie Mad Max, lauerte uns auf.«
»Also sind die anderen tot?«
»Ja.«
»Und die Frau?«
»Weiß nicht.«
»Weil du abgehauen bist.«
Pico ließ den Kopf hängen. »Ich hatte keine Wahl, er hätte mich kaltgemacht.«
»Und …« Der Mann griff mit seiner freien Hand nach einem Pistolenholster.
Pico versuchte, seine verworrenen Gedanken zu ordnen. Er ahnte, dass ihm die Zeit davonlief. »Und wäre das passiert, hätte ich mich nicht auf den Rückweg machen und dir erzählen können, wo sie ist«, blaffte er. »Ich wäre nicht hier, um dich zu ihnen zu führen. Ich könnte dir nicht dabei helfen, zu …«
Der Mann ließ von seinem Holster ab und hob die Hand. »Schon verstanden.« Dann reichte er Pico die Feldflasche. »Das waren gute Argumente. Kaum zu glauben, aber du hast das Richtige getan.«
Pico nahm den Deckel von der Flasche und setzte sie an, wobei genauso viel Wasser in seinen Mund lief wie links und rechts daran vorbei. Er trank gierig und gluckerte dabei. Erst als er sich verschluckte, hielt er inne.
»Langsam, Pico.« Der Reiter fasste sich an den breitkrempigen Cowboyhut und zog ihn tiefer in die Stirn. Alle Kartellbosse trugen solche braunen Kopfbedeckungen.
Als Picos Hustenanfall vorbei war, schnappte er nach Luft. »Danke, Queho. Danke.«
Der Angesprochene trat mit seinem gesunden Fuß auf, neigte sich nach vorn und nahm die Flasche wieder an sich. »Dank mir nicht zu früh«, erwiderte er. »Ich weiß noch nicht, ob ich dich länger am Leben lasse. Zumindest hier und jetzt bleibst du verschont.«
Pico bedankte sich erneut und wollte Queho die Hand geben. Der trat jedoch zurück.
»Wir sind nicht befreundet, Pico. Du arbeitest für mich. Das war schon immer so und wird sich nicht ändern.« Er steckte die Feldflasche zurück in die Tasche, packte den Sattelknopf und zog sich am Pferd hoch. »Aufsitzen«, befahl er, ohne Pico Hilfe anzubieten.
Der kleine Mann hielt sich ungeschickt mit einer Hand am Hinterzwiesel des breiten Sattels fest, schob die andere unters Leder und griff zum Kopfeisen. Mit letzter Kraft zog er sich auf den Rücken des Tiers und schwang ein Bein hinüber.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du überleben würdest«, bemerkte Queho. Er lachte auf, als er dem Pferd die Sporen gab und an den Zügeln zog, damit es umdrehte. Das Tier schnaubte, schüttelte den Kopf und trabte zurück nach Nordwesten, nach Abilene, wo sein Reiter hergekommen war. »Du wirst den Männern erzählen müssen, was du mir erzählt hast. Wir brauchen Einzelheiten. Sag, was du über diese Festung weißt.«
»Wann kehren wir zurück?« Pico hatte beide Arme nach hinten gebogen und hielt sich krampfhaft am Sattel fest – umso erbitterter, als das Pferd einen schnelleren Schritt anschlug. Niemals hätte er seinen Vordermann gebeten, sich an ihn klammern zu dürfen.
»Wenn ich es anordne.« Queho zog kräftig an den Zügeln, woraufhin das Pferd stehen blieb. Ein Mischlingshund mit Räude auf dem Rücken und an den Ohren schlich etwa zwanzig Yards rechts neben der Fahrbahn durch den Sand. Der Reiter zog einen Revolver von seiner Hüfte und zielte auf den Hund, während dieser mit hängendem Kopf weiter zockelte. »Dauert nicht mehr lange.«
Wumm! Der Schuss knallte auf dem weitläufigen Terrain laut wie Donnerhall. Der Hund fiel tot um. Die einzelne Kugel hatte sein trauriges Leben beendet.
»Ich hasse Köter«, sagte Queho. Er steckte den Revolver zurück und gab dem Pferd abermals die Sporen.
Pico hielt sich achtsam fest, während sie schneller wurden, und schaute auf den toten Mischling, der im Sand ausblutete.
5. August 2032, 12:04 Uhr – zwei Monate vor dem Ausbruch – Abilene, Texas
Der Baumarkt Bible befand sich in der Walnut Street 333 zwischen der 3rd und 4th Street des historischen Stadtkerns. Da es sich um ein traditionelles Familiengeschäft mit sehr umfangreichem Sortiment handelte, zog es Marcus Battle gegenüber anderen in Abilene vor.
Er bremste mit seinem 2025er Ford F150 am Straßenrand und parkte vor der grünen Markise über dem Eingang. Dann ließ er seinen Blick über die breite Straße hinter dem Hauptpostamt schweifen. Hier und dort standen weiße Paketwagen auf dem eingezäunten Parkplatz. Er trat durch die offene Glasdoppeltür. Gleich neben der Tür, hinter einer breiten, blauen Theke, die nach einer Seite hin geöffnet war, saß eine Frau auf einem Drehstuhl. Marcus grüßte, nahm sich einen Korb und zog durch die Gänge, während er die Liste auf seinem Handy mit dem abglich, was er im Kopf hatte.
Bei Bible einzukaufen war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Seit der Eröffnung vor neunzig Jahren hatte sich kaum etwas in dem Laden verändert. Dem vertrauten Ambiente wohnte etwas Beruhigendes inne, wenngleich Marcus nicht entging, wie ironisch es war, hier Besorgungen für das Ende der Welt zu erledigen.
Don, ein netter, älterer Herr, kam zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken. »Darf ich Ihnen helfen?« Als sich Battle umdrehte, lachte er. »Oh, Marcus! Mit der Baseballmütze auf dem Kopf hab ich dich gar nicht erkannt.«
»Hi, Don.« Marcus nahm die Hand des Mannes und drückte sie fest. »Ich komme schon klar, heute brauche ich nicht viel.«
»Wann kommt's denn?«, fragte Don und steckte die Hände in die Taschen seiner Arbeitsschürze.
»Was meinst du?«
»Na, das dicke Ende.«
Marcus lachte kurz und ließ eine Packung Mikro-Batterien in den Korb fallen. »Kann ich nicht sagen, Don. Ist 'ne Sonntagsfrage. Jedenfalls möchte ich bereit sein, wenn es soweit ist.«
Der Alte zwinkerte. »Ich finde, Sonntage sind überhaupt eine gute Zeit, um Vorkehrungen zu treffen. Wir warten schon seit Wochen auf euren Besuch.«
»Ich will keine Ausflüchte machen«, erwiderte Marcus. »Wir konnten uns bisher einfach nicht die Zeit nehmen. Sollten wir aber, ich weiß. Uns tut's gut, und der Kleine liebt die Sonntagsschule.«
»Nicht dass ich's euch ankreiden würde«, versicherte Don. »Wirklich nicht, aber es wäre schön, euch mal wieder zu sehen.«
»Schon klar, wenn ich in einem Geschäft kaufe, das ›Bible‹ heißt, muss ich damit rechnen, in ein Gespräch über die Kirche verwickelt zu werden, richtig?«
Don zwinkerte erneut, hielt Marcus einen hochgestreckten Daumen vor und trat den Rückzug an. »Lass wissen, falls du etwas Bestimmtes suchst … und grüß Sylvia von mir.«
»Werde ich, Don.« Nachdem er mehrere Packungen Mignonzellen in den Korb gelegt hatte, suchte er im nächsten Gang nach LED-Birnchen. Diese hatten zwar kein Verfallsdatum, doch er kaufte gern auf Vorrat, fünf für jede Lampe im Haus. Zum Aufstocken brauchte er noch ein paar.
Hinter einem Regal voller Pflanzenschutzmittel stieß er wieder auf Don, der neben einer Frau stand, die sich am Kopf kratzte.
Читать дальше