Während der ersten Monate, nachdem seine Familie und zahllose andere von dem Massensterben dahingerafft worden waren, hatte Battle mit dem Gedanken gespielt, sich anzupassen. Er hatte überlegt, Fremde einzuladen, um mit ihnen zusammenzuleben und eine Zweckgemeinschaft zu gründen. Dazu hätte er mehr Land erschließen, weitere Teile seines Grundstücks urbar machen und mehrere Dutzend Personen in seinem Denken beziehungsweise Handeln unterweisen müssen.
Gebetet hatte er auch deswegen, alles mathematisch durchgerechnet … und sich letztlich doch dagegen entschieden. Es wäre unmöglich gewesen, diejenigen zu impfen, die er aufgenommen hätte. Seit er aus dem Krieg zurückgekehrt war und das Militär verlassen hatte, führte er vorsätzlich ein spartanisches Leben.
Sein Job hatte ihm ermöglicht, dies überall zu tun. Gemeinsam mit Sylvia war er zu Land mitten im Nirgendwo gekommen und im siebten Monat ihrer Schwangerschaft aus einer Wohnung am Armeestützpunkt in Fort Worth auf dieses Gut in der Nähe der County Road 133 im texanischen Bezirk Eastland gezogen. Die Einwohnerzahl der nächsten Stadt Rising Star, einem Gebiet von zwei Quadratmeilen, hatte siebenhundertzweiundsechzig betragen.
»Wir haben keine Nachbarn«, hatte Sylvia mit beiden Händen auf ihrem Bauch gemeint, als sie irgendwo auf den fünfzig Morgen stehen geblieben waren. »Und kaum Bäume.«
»Ich kann welche besorgen. Wir umgeben uns damit. Die bieten uns Schutz.«
»Nachbarn?«
»Bäume.«
»Aber was ist mit Nachbarn?«
»Wir wollen keine Nachbarn. Darum geht's doch.«
Sylvia war nicht begeistert gewesen. Sie hatte die Frauen der anderen Soldaten und ihre wöchentlichen Margarita-Abende vermisst. Marcus war zu oft verreist. Dennoch hatte sie die Zivilisation bereitwillig aufgegeben, um ihren Gatten die meiste Zeit über bei sich zu haben, ungeachtet der Umstände.
Sie hatten knapp zwei Jahre in einem geräumigen Winnebago-Wohnmobil gelebt, während Marcus den Bau des Hauses, der Scheune und der Garage beaufsichtigt hatte. Abgesehen von einer Woche im Eastland Memorial Hospital, als sie ihren Sohn zur Welt gebracht hatte, und einem Wochenende pro Monat in einem Hotel in Abilene waren sie auf engstem Raum ausgekommen.
»Besser als in einem Bunker zu pennen«, hatte er oft behauptet.
»Aber nicht besser als eine Latrine«, war stets ihre Antwort gewesen.
Er sah Sylvia als engelsgleiche Frau. Schließlich unterstützte sie den Mann, den sie liebte. All der Nächte zum Trotz, in denen er auf der anderen Seite des Planeten gewesen war, hatte sie ihn und ihr Baby gemeinsam in einem Heim auf Rädern in die Arme geschlossen.
Während der Bauarbeiten waren ein paar Bauern aus der Nähe vorbeigekommen – Wichtigtuer, sonst nichts. Keiner hatte Hilfe angeboten.
Eine Frau aus einer Kirche in Abilene hatte in der ersten Woche, nachdem sie eingezogen waren, einen Pfirsichkuchen vorbeigebracht. Sylvia hatte sie im Baumarkt Bible kennengelernt und in ihre Pläne eingeweiht. Bei diesem einen Besuch war es geblieben, obwohl sie Marge – so ihr Name – ab und zu sonntags morgens wiedergetroffen hatten.
Vor der Pestepidemie war Marcus ganz bewusst mit niemandem befreundet oder geneigt gewesen, sich auf Nachbarn zu verlassen. Darum blieb er auch jetzt allein. Das Wagnis, in harten Zeiten Vertrauen zu Fremden aufzubauen, erschien dem skeptischen Soldaten zu unberechenbar, als dass er es eingegangen wäre.
Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg.
Schließlich stand Battle bis zu den Ellbogen in dem Loch. Es war jetzt eineinhalb Meter lang und tief genug für seine Zwecke, also kletterte er wieder hinaus. Ein paar Fuß weit entfernt stand eine Schubkarre, die er nun holte. Die vordere Querstrebe knarrte unter der Last in der Wanne, und seine Knie knackten. Er schob sie bis an den Rand des Lochs.
Statt die Karre zu kippen, packte er die Leichen einzeln an den Beinen und zerrte sie über die Kante in ihr Gemeinschaftsgrab, falls man es so nennen konnte.
Sie wurden schon steif, was Battle die Arbeit erschwerte. Als alle drei Männer unten lagen, betete Battle für sie und machte sich daran, das Grab zuzuschaufeln.
Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg.
»Du hast für ihre Seelen gebetet?« Lola war zurückgekommen. Sie lehnte an einer kahlen dreißigjährigen Eiche. »Warum machst du dir die Mühe?«
Battle unterbrach das Schaufeln und seufzte. »Was spricht dagegen?«
»Dass sie dich umbringen wollten.«
»Gerade deshalb sollte ich für sie beten.«
Sie schürzte die Lippen und stieß sich mit dem Rücken vom Baum ab, bevor sie mehrere Schritte auf Battle zuging. »Du hast deinen Glauben noch nicht verloren?«
»Glauben woran?«
»An Gott?«
Da lachte er. »Selbstverständlich nicht. Warum sollte ich?«
Sie fuhr mit einer Hand über ihre rote Nase. Ihre Augen waren verweint. »Sag's mir.«
»Gott stellt uns vor Prüfungen«, hob er an. »Er führt uns in Versuchung. Er verletzt und baut uns wieder auf. Ich fühle mich Gott nie näher als in der Finsternis. Solange alles gut geht, brauche ich Gottes Kraft nicht, aber ich brauche sie, wenn eine Bande Kartellmitglieder an meine Tür klopft und mir was zuleide tun will.«
Battle drehte sich um und schaute auf die Leichen hinab, die halb zugeschüttet am Grund des Lochs lagen. Derart verdreht konnte man ihre Glieder nicht auseinanderhalten. Diese Männer hatten Mütter und Väter gehabt, vielleicht auch Geschwister, Ehefrauen und Kinder. Sie waren ebenfalls von der Seuche betroffen gewesen. Genau wie er hatten sie getan, was sie für notwendig hielten, um zu überleben. Obwohl es keine Rechtfertigung dafür gab, eine Frau und ihren Sohn zu versklaven, urteilte er deswegen nicht über sie. Er hatte sie erschossen, weil es unerlässlich gewesen war. Gott allein würde anhand ihrer Entscheidungen über sie richten, in gleicher Weise wie eines Tages über Battle.
»Du hast geweint, stimmt's?«
Lola nickte.
Sein Blick ruhte einen Moment auf ihr, dann griff er wieder zu seinem Spaten. Nachdem er die Handschuhe angepasst und fest über seine Finger gezogen hatte, arbeitete er sich weiter an dem Haufen aus Erde und Wurzeln am Rand der Grube ab, der zusehends kleiner wurde. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg.
»Wie kannst du ihrer Seelen gnädig sein und meiner nicht?«
Battle ging zunächst nicht darauf ein. Er wollte hier fertig werden. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg.
»Wie«, wiederholte sie lauter, »kannst du ihrer Seelen gnädig sein und meiner nicht?«
Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg. Rein, raus, hoch und weg.
»Warte.« Er rammte den Spaten in die Erde und stellte sich vor Lola. Seine Brust hob und senkte sich sichtlich, während sein Herz raste.
»Du hast für sie gebetet«, fuhr sie fort, »wirfst mich aber raus und nimmst in Kauf, dass ich sterbe … ich und mein Sohn.«
Battle fragte sich, weshalb sie ihn so bedrängte. Gedachte sie, einen wunden Punkt zu treffen? Versuchte sie, ihm Zweifel an seinem Glauben einzureden? Klar, sie war verzweifelt. Das wäre er an ihrer Stelle auch. Aber er durfte nicht nachgeben. Er konnte sich nicht auf so ein hoffnungsloses Unterfangen einlassen – sein Haus aufzugeben, um einen Jungen zu suchen, der vielleicht gar nicht mehr lebte.
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