»Und was?«
»Er meinte, ich solle weglaufen.« Plötzlich fuhr sie von ihrem Stuhl hoch und wandte sich ab, wobei sie ihr Gleichgewicht mit dem unversehrten Bein hielt. »Sawyer schrie mich an, damit ich losrannte. Das wollte ich aber nicht. Eine Mutter sollte …«
»Du bist aber gerannt.«
Sie hatte ihm zwar den Rücken zugedreht, doch Battle sah ihren Kopf – einen Schattenriss vor der hochsteigenden Sonne – auf und nieder gehen. Ihre Schultern zitterten, sie schluchzte.
Battle erhob sich langsam und trat näher. Ihm war, als ob er nicht Herr seiner eigenen Hände sei, als er sie ausstreckte und an Lolas schlotternde Oberarme legte. Sie zuckte, als er sie anfasste, wandte sich ihm aber zu und schlang ihre Arme um ihn. Er erstarrte kurz, bevor er sie an sich zog und festhielt.
Mit den Fingern an ihrem Rücken konnte er die Rippen zählen. Sie war nur noch Haut und Knochen. Seit dem Ausbruch der Epidemie hatte Lola gelitten. Battle bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sich relativ glücklich schätzen durfte.
Sie entzog sich, indem sie gegen seine Arme drückte und zurücktrat. »Ich ging wieder zurück, um ihn mitzunehmen. Sie waren zu fünft, einer von ihnen auf einem Pferd, an dem sie Sawyer festgebunden hatten, die anderen zu Fuß.«
»Er lebt also noch.«
»Ich glaube schon«, antwortete sie. »Ich konnte ihnen nicht lange unbemerkt nachstellen, sondern wurde bald entdeckt. Der Reiter befahl den anderen, mich zu schnappen. Er rief ihnen hinterher, sie dürften nicht ohne mich in die Wohngemeinschaft zurückkehren.«
»Und sie haben dich bis hierher gejagt?«
»Ja, ich hatte etwa fünf Minuten Vorsprung. Gelaufen bin ich vielleicht eine Stunde … im Kreis. Schließlich sah ich deine Schotterstraße und dachte, ich könnte mich hier verstecken.«
Battle grinste schief. »Kannst du wohl.«
»Danke.«
»Nichts zu danken«, gab Battle zurück und schaute in die Sonne, die jetzt über den Eichen am wolkenlosen Himmel stand. Die Luft war frisch und kalt. Er atmete tief ein. »Ich habe dich nur gerettet, weil ich mich verteidigen musste.«
Lola verschränkte ihre Arme wieder vor der Brust. Sie bekam Gänsehaut in der kühlen Morgenluft, und dachte wohl auch an ihre ungewisse Zukunft.
»Was hast du nun vor?«, fragte Battle, obwohl er die Antwort erahnte.
»Meinen Sohn finden«, erwiderte sie. Als sie den Kopf wieder anhob, hatte sie einen flehentlichen Blick aufgesetzt. »Hilfst du mir dabei?«
Er machte einen Schritt zurück und schaute auf die Kalksteinplatten am Boden. Er starrte auf die abgeschabte Spitze seines Stiefels aus braunem Leder. »Tut mir leid, Lola, das kann ich nicht.«
13. Oktober 2037, 8:17 Uhr – Jahr 5 nach dem Ausbruch – Texas Highway 36 zwischen Rising Star und Abilene
Salomon Pico lief nach Nordwesten in Richtung Abilene. Er wurde immer langsamer, war außer Atem. Sein Mund wurde allmählich trocken. Er musste verschnaufen. Nachdem er die letzten Tropfen Wasser aus seiner Feldflasche getrunken hatte, hängte er sie wieder an seinem Gürtel ein.
Seine Füße taten weh, vor allem die Blasen an den Fersen in seinen Stiefeln. Vor ihm lagen geschätzt weitere acht Stunden Fußmarsch, doch er war sich nicht sicher, ob er ihn auf sich nehmen wollte. Sein Boss hatte gesagt, er brauche nicht zurückkommen, wenn er die Frau nicht schnappte. Drei seiner Kartellbrüder hatten ihr Leben gelassen, er konnte davonlaufen. Wer auch immer ihr Killer war: Salomon konnte es nicht mit ihm aufnehmen. Der schmächtige, drahtige Gefolgsmann bewährte sich nur in Gruppen. Als der letzte seiner Brüder gestorben war, hatte er eingesehen, dass er die Beine unter die Arme nehmen musste.
Jetzt massierte er seinen Nacken und strich mit der schweißnassen Hand über seine Glatze. Im Osten ging die Sonne auf. Nicht mehr lange, dann würde es wärmer und das Gehen noch anstrengender. In dieser Gegend kam mitunter auch im Oktober noch Hitze auf.
Er leckte sich seine aufgeplatzte Oberlippe, wobei er die borstigen Haare seines dichten Schnauzers spürte, und trottete schwerfällig am Fahrbahnrand entlang weiter.
Salomon Pico wusste, dass ihm ein bitteres Ende blühte, wenn er diesen langen Weg zurückgelegt hatte. Dies war in gleichem Maße wie seine Erschöpfung der Grund dafür, dass er lieber ging, statt zu laufen. Er brauchte Zeit, um sich eine Ausrede auszudenken, mit der er sein Versagen rechtfertigen konnte.
In der Hackordnung des Kartells rangierte Pico weit unten. Er besaß weder Rang noch Titel. Niemand war ihm Rechenschaft schuldig. Er galt als Fußvolk, was ihm auch bewusst war.
Allerdings glaubte er, auf der niedrigsten Stufe der einzigen Hierarchie zu stehen, die noch etwas bedeutete, wäre besser als die Herrschaft über einen Haufen Verlierer. So teilte er die Welt seit der Seuche auf … in Kartellmitglieder und Taugenichtse.
Die Jeans war ihm in den Schritt gerutscht, also rückte er sie zurecht. Er schwitzte und die Haut scheuerte an empfindlichen Stellen auf. Die Hose passte sowieso nicht. Er besaß seit über einem Jahr keine in seiner Größe. Als Bodensatz – und das war er eben – durfte man nicht wählerisch sein.
Lieber noch stellte sich Pico insgeheim vor, er sei der zurückgebliebene Welpe im Rudel. Er musste mit der kleinsten Zitze vorliebnehmen, falls und wenn sie frei war.
Unterwegs schweiften seine Gedanken ab. Er entsann sich der Tage vor dem Ausbruch der Pest. Seinerzeit hatte er einen 2019er Camaro besessen, eine Eigentumswohnung in Fort Worth und eine Freundin, die Tänzerin in einem lokalen Klub gewesen war, wo er wiederum bedient hatte. Gelegentlich war er mit der verbrecherischen Unterwelt zugange gewesen. Als Gelegenheitsdieb hatte Pico ein Händchen fürs Tresorknacken entwickelt. Dank dieser Fertigkeit war er solvent genug gewesen, um seine Braut bei der Stange zu halten, obwohl er gewusst hatte, dass sie ihn nicht liebte. Eine bemitleidenswerte Beziehung, doch genau das hatte er seiner eigenen Ansicht nach verdient. Als er an den Camaro dachte, wähnte er sich wieder hinterm Steuer, während er lässig auf einer Fernstraße fuhr. Er hatte die Scheiben heruntergelassen oder besser noch, die Klimaanlage voll aufgedreht, genauso wie die Musik. Vielleicht hörte er ZZ Tops La Grange. Seine Süße saß neben ihm und hatte eine Hand auf sein rechtes Bein gelegt.
Diese Vorstellung schlug ihn derart in ihren Bann, dass er den Mann mit dem Cowboyhut nicht bemerkte, der auf einem Pferd geritten kam.
»Pico!«, hörte er schließlich, was ihn aus seinem Tagtraum riss. »Wo sind die anderen?«
Er musste sich erst wieder besinnen, während er zu dem Mann hochschaute. Er sah seine ärmliche Reflexion in der verspiegelten Sonnenbrille des Reiters. »Hast du etwas zu trinken?« Er hakte die leere Feldflasche an seiner Hüfte aus und winkte ihm damit.
»Wasser«, erwiderte der Mann und stieg ab. Er trat ungelenk mit einem Klumpfuß auf. »Aber du musst mir sagen, was mit den anderen passiert ist. Was treibst du hier draußen mitten auf dem Highway?«
»Es gab … Schwierigkeiten.«
»Welche Schwierigkeiten?« Der Mann nahm seine eigene Feldflasche aus einer Satteltasche, verharrte aber mit ausgestrecktem Arm neben dem Pferd. Dabei stützte er sich dagegen und zog an dem Leder oberhalb des Steigbügels.
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