Wenn der Schnee hier alles bedeckt, muss es noch hübscher aussehen! Vielleicht kann ich ja einmal im Winter herkommen …
Sie hatten inzwischen die Häuser hinter sich gelassen und wanderten an einem kleinen See entlang. Mats nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete mit dem Stiel auf die Umgebung, die kahlen Felder, die flachen Hügel dahinter und den Wald, der sich hinter dem See als dunkle Mauer erhob.
»Unser Land ist löchrig wie ein Schwamm«, sagte er. »Und damit meine ich nicht die von der Südküste bis hier hoch allgegenwärtigen Seen. Es gibt unzählige Löcher in die andere Welt, in eure Welt.« Er nickte Rian zu. »Du kannst es spüren, oder? Jeder große Baum, jeder Hügel, jeder See kann zum Durchgang werden. Und wir haben die Mondtore – Tore, die bei Vollmond oder Neumond von selbst aufgehen, oder wo die Grenze zumindest so dünn wird, dass ein Kundiger sie mühelos durchstoßen kann. Früher muss es auch anderswo so viele Portale gegeben haben, aber selbst in Irland habe ich sie nicht in dieser Dichte gefunden.«
Rian nickte. Fanmór hatte in Crain jedes ihm bekannte Tor dieser Art geschlossen, weil sich immer wieder Sterbliche in die Anderswelt verirrt hatten. Vor allem hatte er sichergehen wollen, dass kein Sterblicher sie während des Schlafes überraschen konnte.
Bis wir aufwachten und fanden, dass der Herbst Einzug gehalten hatte in unserem Land … Wie viele sind inzwischen wohl schon vergangen, für immer verloren, ohne die Möglichkeit der Rückkehr, die Annuyn manchen anbietet? Wie viele sind inzwischen dem früher unmöglichen Alterstod zum Opfer gefallen? Rian schüttelte die Gedanken ab und wandte sich wieder Mats zu.
»Wie kommt es, dass du diese Tore finden kannst?«
»Keine Ahnung.« Mats zuckte die Achseln und zog an seiner Pfeife. Langsam ließ er Rauchringe aus seinem Mund entweichen. »Vielleicht ist es einfach eine Frage des Glaubens«, fuhr er dann fort. »Ich war immer überzeugt, dass es die andere Welt gab. Darum konnte ich auch die Dinge sehen, die von den meisten rationalen Menschen heute nicht mehr gesehen werden, weil sie sie nicht sehen wollen. Dinge, die nicht zu ihrem Weltverständnis passen.«
»Gibt es noch mehr Leute hier, die das sehen?«
»Ein paar. Gerade auf dem Land und unter den älteren Leuten wirst du noch welche finden, die ihren Sinnen mehr glauben als den Büchern. Aber das ist vermutlich nur deshalb so, weil wir eben diese Dinge hier weiter erlebt haben, als in anderen Ländern die Tore zufielen.«
Rian staunte. Gerade die Völker, die innerhalb der Anderswelt als verschlossen und eigenbrötlerisch verschrien waren und von denen man kaum etwas sah, hatten anscheinend den engsten Kontakt zu den Sterblichen bewahrt. Vielleicht war gerade das der Grund für ihre Zurückgezogenheit, denn Fanmórs Gebot war diesbezüglich klar gewesen, und es galt für ganz Earrach: Es hatte keine Verbindungen mehr zu den Menschen zu geben.
»Und was lässt dich nun glauben, dass ich aus der Anderswelt bin?«, hakte sie bei der ursprünglichen Frage nach.
»Erstens einmal deine übermenschliche Schönheit«, stellte Mats fest und zwinkerte ihr zu. »Außerdem berühren deine Füße nicht den Boden. Und dein Schatten ist nicht echt. Ich sehe genau hin.«
Rian staunte. Bislang waren ihre Freunde Nadja und Robert die einzigen gewesen, denen das aufgefallen war, und auch nur, weil sie es auf digitalen Fotografien gesehen hatten.
»Und mit deinen Augen stimmt etwas nicht«, unterbrach Mats Rians Gedankengänge. »Ich vermute, du hast einen Zauber darüber gelegt, damit sie dich nicht verraten. Aber sei unbesorgt deswegen, ich werde es nicht weitertragen.« Mats wandte sich zum Dorf. »Gehen wir zurück. Meine alten diesweltlichen Knochen brauchen langsam wieder etwas Kaminfeuerwärme. Magst du mir erzählen, was euch hierher treibt? Zur hier üblichen Familie zählt ihr nicht, da bin ich sicher. Ihr müsst von weiter weg sein.«
»Wir sind von den Sidhe Crain«, erklärte Rian.
Mats nickte. »Sidhe, das klingt keltisch, Richtung Britische Inseln und Nordfrankreich, soweit man die Regionen eurer Welt überhaupt mit unseren Ländern in Verbindung bringen kann.«
»Unsere Welt ist eurer durchaus ähnlich. Wenn wir von irgendwo aus einfach nur ein Tor zu euch öffnen, ohne ein bestimmtes Ziel vorzugeben, kommen wir im entsprechenden Gebiet hier heraus.«
»Darf ich fragen, wo euer Ziel liegt?«
Rian zögerte. »Ich glaube, es ist besser, wenn du nicht zu viel weißt«, antwortete sie. »Wir werden sicher verfolgt, und wenn unser Gegner auf die Idee kommt, du könntest wissen, wo wir hingehen …« Sie dachte erneut an das Gebot ihres Vaters, keine Sterblichen zu Schaden kommen zu lassen. Immer wieder war der Getreue unvermutet in ihrer Nähe aufgetaucht, und dieser scherte sich nicht um das Gebot – er entführte sogar die Seelen der Menschen und brachte sie seiner Königin. Das konnte Mats blühen, nachdem der Getreue ihm alle Informationen entrissen hatte, die ihm dienlich waren. Und wenn nicht er selbst, so konnten seine Helfer ihnen auf den Fersen sein, die nicht minder mörderisch waren. Rian schüttelte es innerlich.
»So, so.« Mats zog an seiner Pfeife. »So ganz hilflos sind wir Menschen aber nicht. Möglicherweise kann ich etwas für dich tun.«
»Diese Gefahr ist anders«, sagte Rian bestimmt. »Aber du kannst mir auf trotzdem helfen. Erzähl mir mehr von den Völkern, auf die wir nordwärts treffen werden.«
»Auf dem Land werdet ihr von den Menschen offen aufgenommen, und es wird immer wieder welche geben, die euch erkennen, so wie ich. Was die Andersweltlichen betrifft …« Er deutete in die Richtung, in der sie zuvor die Hügel gesehen hatte. »Ihr werdet überall auf Trolle stoßen. Im Süden sind sie gesellig, leben in Gruppen oder großen Familien zusammen, aber im Norden, in Lappland und drüben in Norwegen, sind sie zunehmend unleidiger. Da trifft man sie fast nur noch einzeln, vielleicht mal zu zweit oder zu dritt, wenn sie jemanden zum Streiten brauchen. Freundlich sind sie aber alle nicht.«
Mats schmunzelte. »Manche treiben eher harmlose Scherze oder helfen einem sogar einmal gegen einen Preis, während die meisten bösartig und gefährlich sind. Am besten geht man ihnen aus dem Weg, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, hält man in der einen Hand Geschenke bereit, um sie zu bestechen, und in der anderen eine durchgeladene Schrotflinte, um sie eine Weile aufzuhalten, bis sie sich wieder zusammengeflickt haben. Ein Flammenwerfer wäre natürlich noch besser, aber den gibt es nicht frei im Handel.«
»Aber Schrotflinten?«
Mats grinste. »Wer sollte sich hier draußen darum kümmern? Meine Knarre stammt ungefähr aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, und ich gehe nie ohne sie in die Hügel. Angeblich gibt es dort alte Gräber und wo es alte Gräber gibt, ist oft alte Magie am Werk. Da ich ein Mann bin, der an seinem Leben und seinem Verstand hängt, versuche ich, so etwas zu vermeiden.«
»Und die Trolle.«
Mats nickte. »Und die Trolle. Wobei man mit denen besser verhandeln kann als mit einem Draugr. Das sind Tote, die ihren Tod verpasst haben. Man sagt, sie hätten beachtliche magische Kräfte, aber zum Glück sind sie nicht die schnellsten – weder im Laufen noch im Denken. Trotzdem würde ich mich nicht mit einem anlegen wollen. Sie sollen sehr stark sein, nahezu unverwundbar, und sie verbreiten Leichengift. Sich von ihren Krallen verletzen zu lassen ist eine schlechte Idee. Mein Großvater hat erzählt, dass zu Zeiten seines Großvaters hier einer umging. Daher kamen die Gerüchte, dass es in den Hügeln ein Grab gäbe. Bisher hat sich niemand ernsthaft darum gekümmert, es zu finden.«
Rian fröstelte. Der wandelnde Tote erinnerte sie an den verirrten Schatten, den sie berührt hatte. Ein Draugr musste sich ähnlich fühlen wie dieser Geist – haltlos, verloren, immer auf der Suche nach Wärme und Leben, um es aufzusaugen. Vielleicht waren es ja sogar Annuyn-Schatten, die diese Körper belebten? Mats hatte gesagt, die Grenzen zwischen der Welt der Sterblichen und der Anderswelt seien hier schon immer dünner gewesen. Vielleicht galt das auch für Annuyn? Vielleicht war das, was sie erlebt hatte, gar nicht auf ein neues Aufweichen der Trennlinien zurückzuführen?
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