Rian sah sich um, während sie darauf wartete, dass sich der Kreis auflöste, der sich um Mats’ bequemen Sessel am Kamin gebildet hatte. Die Holzverklinkerung der Außenfront des Röda Thor war zwar vor kurzem neu in kräftigem bordeauxrot mit weiß abgesetzten Fensterrahmen gestrichen worden, und sein Inneres war durchaus an modernere Zeiten angepasst, doch zugleich hatte es sich den Charakter bewahrt, den es vermutlich schon vor hundert Jahren und länger aufgewiesen hatte.
Zwischen dem hellen Holz der Trägerbalken waren Wände und Decke weiß gestrichen, wodurch das gedämpfte Licht der klassischen Kandelaber reflektiert und der Raum angenehm hell wurde. Hier und da, vor allem in der Nähe des Kamins, wies die Decke Rußflecken auf, denn der Kamin fand heute noch Anwendung, ein fröhliches Feuer flackerte in ihm.
Neben dem Kaminabzug hatte irgendwann jemand mit roter Farbe in groben Strichen einen markanten Wikinger an die Wand gemalt, der bedrohlich einen großen Hammer schwang. Mats saß genau unter diesem Bild, und sein schmaler, vom Alter gezeichneter Körper mit den lustig blitzenden Augen bildete eine krassen Gegensatz zu dem martialischen Kämpfer an der Wand. Er hatte eine fleckige Lederweste über sein kariertes Hemd und die Jeans gezogen, die er schon am Tag getragen hatte. Während seiner Erzählung war seine Hand gelegentlich über die ausgebeulte Westentasche geglitten, und Rian fragte sich, was darin war.
Ihr Blick wanderte weiter. Der Raum war ausgestattet mit einfachen Tischen und Stühlen aus hellem Holz, die an diesem Abend nahezu alle besetzt waren, mit Leuten aus jeder Altersklasse. Auf den Tischen standen auf rot bestickten Mitteldecken bunte Gläser mit Teelichten und kleine Topfblumen, die in der warmen Zimmerluft erstaunlich gut überlebten.
Eine Seite des Raums wurde dominiert von einem Tresen, an dessen Holz man noch die Äste und Verwachsungen des Baumes erkennen konnte, aus dessen Holz er gebaut war. David saß auf einem Barhocker und unterhielt sich angeregt mit einer schlanken Frau mit hochgestecktem dunkelblondem Haar. Sie war schön, stellte Rian fest, auf eine Art, die sie ein wenig an andere Elfen erinnerte. Dennoch beachteten die menschlichen Männer sie kaum, vielleicht aufgrund ihres schlichten, gedeckten Kostüms und der nur dezent aufgetragenen Schminke.
Ob David versuchen wird, sie zu verführen? , fragte sich Rian, während sie die beiden beobachtete. Früher wäre das völlig normal für ihn gewesen, aber jetzt … Müsste er so etwas im Moment eigentlich gar nicht wollen?
So war es zumindest in all den Liebesgeschichten, die Rian kannte. Frisch verliebte Männer sahen andere Frauen gar nicht mehr – außer sie wurden von böswilligen Rivalinnen der Geliebten durch Lügen verführt. Aber diese Frau hier würde ja wohl kaum Anlass haben, Nadja schaden zu wollen. War also Davids Liebe einfach noch nicht so tief?
Rian zuckte die Achseln. Sie würde das mit der Liebe vermutlich niemals wirklich begreifen, und dass David zu lieben begann, war ihr eher unheimlich. Wenn er sich wieder so benahm wie früher, empfand sie Erleichterung. Vielleicht würde er die Seele ja aufgeben, und alles konnte sein wie gewohnt. Aber das wiederum würde Nadja wehtun, und das wollte Rian ja gar nicht, denn Nadja war ihre beste Freundin.
Jetzt fängst du auch schon an, dir wegen der Liebe so dumme Gedanken und Probleme zu machen , schalt sie sich innerlich. Vergiss das. Die Dinge werden, wie sie werden, und du hältst dich am besten raus.
Entschlossen wandte sie sich von David ab und drängte sich zu Mats durch.
»Ah, die Elfendame!« Der alte Erzähler stand auf und zog einen Stuhl für sie heran. »Ich hoffe, du hast dich nicht nur gelangweilt bei meinen einfältigen Geschichten?«
»Ganz und gar nicht«, widersprach Rian, während sie sich setzte. »Ich finde deine Erzählweise faszinierend – und die anderen scheinen auch dieser Meinung zu sein. Machst du das oft?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Die meisten älteren Leute hier kennen schon alle meine Geschichten, und die jungen … na ja, es gibt nicht mehr viel Jungvolk hier im Dorf, und das kommt nicht ins langweilige Röda Thor , sondern verbringt den Abend lieber in der nächsten Stadt. Die sehen nicht mehr, wie viele Abenteuer die Welt um sie herum ihnen bietet, wenn sie nur die Hände danach ausstrecken und glauben.« Er zuckte die Achseln. »So ist der Lauf der Zeit. Selbst von denen, die kommen, sind nur deshalb heute so viele hier, weil sie euch Fremde sehen wollen.«
»Meinst du? Aber es kommt mir gar nicht so vor, als wären die Leute übermäßig neugierig auf uns.«
Mats ließ seine weißen Zähne in einem Lächeln blitzen. »Es wäre auch unhöflich, wenn ihr das bemerken würdet, und wenn wir Schweden eines niemals sind, dann unhöflich. Oder zumindest nicht, solange man uns nicht reizt. Legen wir unsere Höflichkeit allerdings mal ab, dann …« Er wackelte mit der Hand, spitzte die Lippen und sog die Luft etwas ein.
»Was dann?«
»Dann setzen wir uns Helme mit Kuhhörnern auf, greifen nach Axt und Schild und gehen morden und brandschatzen.« Mats grinste.
Rian neigte den Kopf zur Seite und musterte Mats. »Warum glaubst du, dass wir nicht von hier sind? Also, nicht aus dieser Welt? Oder sagst du das nur so?«
»Ich sage es mit vollem Ernst, und ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Er stand auf, griff in die Tasche seiner Lederweste und zog eine Pfeife hervor. »Ich würde gern ein wenig rauchen und mir die Füße vertreten. Nach so einer Erzählrunde brauche ich das. Wenn du weitere Antworten willst, musst du mit rauskommen.«
»Gern!« Rian stand auf, während Mats sich eine Wollstrickjacke überwarf und eine Schirmmütze aus Jeansstoff aufsetzte, und folgte ihm zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Niemand schien zu befürchten, dass Rian zechprellen würde. In einem Dorf wie diesem, das aus fünf oder sechs Straßen und einem Marktplatz sowie einigen im Umland verstreuten Höfen und einsamen Wohnhäusern bestand, gab es noch Vertrauen.
Vor der Tür zog Mats aus der anderen Westentasche ein Tabakbeutelchen und begann, in dem warmen Licht, das durch die Fenster fiel, seine Pfeife zu stopfen. Er machte eine Kopfbewegung auf eine der Seitenstraßen zu, die vom Markplatz wegführten. »Wenn man die Straße da runtergeht, am See vorbei, kommt man übrigens zu dem Wald, in dem mein Großvater der Skogsra begegnet ist.«
»Hat er wirklich all das erlebt?«, fragte Rian.
Schalkhaft blitzten die Augen des Schweden auf. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube ihm, dass er eine Waldfrau kannte. Oft genug rausgegangen und erst am nächsten Morgen wiedergekommen ist er. Aber ob die Geschichte so verlaufen ist, wie er mir erzählt hat, das weiß ich nicht. Ich vermute eher, dass sie irgendwann das Interesse an ihm verloren hat, weil er zu alt wurde oder ihre Bedürfnisse nicht mehr stillen konnte. Aber so etwas lässt einen ja nicht gerade als Held dastehen. Also hat er eine alte Geschichte übernommen, die man an anderen Orten erzählt, und sich da rein gestrickt.«
»Aber du glaubst an die Skogsra?«
Mats zwinkerte. »Ich habe sie gesehen. Ich war noch ein kleiner Junge, und man könnte annehmen, dass ich mich habe täuschen lassen. Aber ich gehe mit offenen Sinnen durch unsere Welt, und ich habe über die Jahrzehnte so viele andere Dinge erlebt, dass ich inzwischen sicher bin, dass auch die Skogsra echt war.« Mit einem langen Streichholz zündete er seine Pfeife an. Angenehmer Duft nach Pflaumentabak durchwehte die Luft.
Mats wies die Seitenstraße hinunter, die er ihr vorher gezeigt hatte. »Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Rian nickte. »Gern.«
Schweigend schlenderten sie zwischen den Häusern hindurch, deren Farben in der Nacht zu Grautönen verblassten. Rian mochte das kräftige Bunt, mit dem die Schweden ihre Häuser schmückten. Jedes Dorf wirkte ein wenig wie eine Ansammlung vielfarbiger Würfel, auf denen die farbig abgesetzten Rahmen der Fenster und Türen wie Augen waren. Sie setzten sich deutlich gegen den grau-grünen Hintergrund ab, der um diese Jahreszeit mit einzelnen Schneeflecken aufwartete.
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