Der General, der seine durchschossene rechte Hand nur noch ruckartig bewegen kann, als gehöre sie einer Marionette, deutet kopfschüttelnd auf die sonderbare Marschkolonne, die sichtbar wird, als der Wagen aus einer Kurve der von Wäldern umsäumten Straße zieht.
»Sind die besoffen?«, murmelt General von Wangen unwillig vor sich hin.
Man ist im Krieg. Im Osten steht ein Gegner, der durchaus nicht zu verachten ist. Wer kommt in solcher Zeit auf den perversen Einfall, mit Soldaten Schindluder zu treiben, sie mit voller Ausrüstung und aufgesetzter Gasmaske durch die Landschaft zu jagen?
»Scheint SS zu sein, Herr General«, bemerkt der Adjutant.
Der Mercedes holt auf, erreicht die letzten Glieder der mit ihren Gasmasken und sichtlich mit letzter Kraft dahinstolpernden Soldaten. Verwundert stellt General von Wangen fest, dass es doch keine SS-Männer sind, jedenfalls nicht die Mannschaft, da sie im Gegensatz zu den am Schluss trabenden Unterführern nicht die üblichen Hoheitsabzeichen am Ärmel und am Kragen keine SS-Runen haben. Dagegen tragen die drei Unteroffiziere am Schluss der Kolonne, die zudem ohne Gasmasken unterwegs sind, Ärmelstreifen des SD, des Sicherheitsdienstes der SS, mit dem der General schon manche unerfreuliche Auseinandersetzung gehabt hat.
»Übelhack«, sagt General von Wangen, sich vorbeugend, zu seinem Fahrer, »wenn Sie die Kolonne überholt haben, halten Sie an. Will mir diesen merkwürdigen Verein näher ansehen.«
»Jawohl, Herr General«, gibt der Stabsgefreite zurück, ohne den Kopf zu wenden.
Im nächsten Augenblick nimmt er den Fuß vom Gaspedal und tritt mit aller Kraft auf die Bremse. Ein Mann ist taumelnd aus der Kolonne ausgeschert und wie ein Stock der Länge nach quer auf die Straße gestürzt.
Das rechte Vorderrad des Generalwagens überrollt den Mann, bevor das Fahrzeug mit kreischender Bremse zum Stehen kommt.
Die Kolonne ist in Verwirrung geraten, einzelne fallen im Schritt, andere prallen auf.
Der General ist im Wagen aufgesprungen. Seine Stimme klingt schneidend.
»Der Offizier! Wo ist der Offizier?«
Unterdessen ist Major Blank ausgestiegen. Gemeinsam mit Übelhack, der ihm gefolgt ist, zieht er den Überfahrenen unter dem Wagen hervor. Der Mann spuckt Blut. Sein Gesicht ist beinahe so grau wie der Belag der Straße. Die Augen blicken ausdruckslos und starr.
Ohne Befehl hält die 3. Kompanie der »Bluthund-Brigade« an. Ohne Befehl reißen die Männer die Gasmasken von den schweißnassen Gesichtern, holen rief Luft und lassen sich, wo sie stehen, auf der Straße nieder.
Untersturmführer Haake rennt auf den Generalswagen zu.
»Wer erlaubt sich da …« heult er mit wuterstickter Stimme.
General von Wangen unterbricht ihn lautstark und kalt: »Ihre Meldung! Name, Einheit?«
Untersturmführer Haake klemmt die Maschinenpistole unter den Arm, ohne Haltung anzunehmen.
»Ich nehme nur von meinen Vorgesetzten Befehle an«, erklärt er mit einem Gesichtsausdruck von unüberbietbarer Dreistigkeit.
General von Wangens Züge spannen sich: »Ich wiederhole zum letzten Mal: Ihre Meldung!«
»Ich habe nichts zu melden«, versetzt Haake grob.
Er weiß, das uniformierte Gesindel der 3. Kompanie beobachtet ihn und würde Schlüsse ziehen, die für ihn gefährlich werden könnten, wenn er zurückwiche.
Major Blank tritt neben den Wagen.
»Ich fürchte, dem Mann ist nicht mehr zu helfen, Herr General. Es fragt sich nur, ob ihn nicht dieser unerhörte Gewaltmarsch umgebracht hat.«
General von Wangen mustert den SS-Offizier mit kaltem Blick.
»Sie scheinen nicht zu wissen, wen Sie vor sich haben. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie vor ein Kriegsgericht stellt. Ihre Waffe! Major Blank, nehmen Sie den Mann fest!«
Auch der Stabsgefreite Übelhack hat sich von der Seite des Überfahrenen erhoben, der mit blutigem Kinn und geschlossenen Augen am Straßenrand liegt. Übelhack stellt sich neben den Major. Vorsorglich zieht er die 08 aus der schwarzen Pistolentasche am Koppel.
Untersturmführer Haake streift den Riemen der MP von der Schulter. Plötzlich schlägt er die Waffe auf den General an, und zugleich bauen sich die drei SD-Männer hinter ihm auf.
Unschlüssig blickt Major Blank zu seinem Divisionskommandeur hoch, der steif aufgerichtet im Wagen steht, im grauen Mantel, zwischen dessen roten Aufschlägen das Ritterkreuz sichtbar ist.
»Ich empfehle Ihnen weiterzufahren, und zwar schnell!«, sagt Haake in unmissverständlich drohendem Ton. »Sie können mich ruhig melden! Der Reichsheini wird Ihnen dann schon die passende Antwort geben.«
Mit betont aufreizender Gelassenheit dreht er sich um. »Dritte Kompanie Gasmasken aufsetzen! Stillgestanden! Im Gleichschritt marsch! Laufschritt!«
General von Wangen fährt sich mit der Rechten über die Augen, als wolle er das grausige Bild eines Alptraums wegwischen.
»Steigen Sie ein, Blank«, sagt er mit müde klingender Stimme zu dem Major, »und Sie auch, Übelhack! Wir fahren weiter.«
Als der Wagen anfährt, wirft er einen letzten Blick auf den Mann, der wie vergessen am Straßenrand liegt. Hunderte, ja Tausende von Toten hat er gesehen, polnische, französische, russische und deutsche Soldaten. Sie waren von Granat- oder Bombensplittern, von Infanteriegeschossen oder hochgehenden Minen niedergemäht worden. Doch keiner ist darunter gewesen, den ein Schinder so lange gehetzt hatte, bis er kraftlos vor ein Auto gefallen ist. Und das Schlimmste ist in seinen Augen, dass weder der SS-Offizier noch sonst jemand sich um den Mann gekümmert hat.
In rasendem Tempo schießt der Generalswagen an der im Laufschritt trabenden Marschkolonne vorbei. General von Wangen glaubt die höhnischen Blicke dieses aufsässigen und unverschämten Untersturmführers im Rücken zu spüren.
»Ich werde den Zwischenfall dem Herrn Oberbefehlshaber melden«, sagt er zu Major Blank.
Der Adjutant wiegt bedächtig den Kopf.
»Ich fürchte, auch der Herr Oberbefehlshaber wird da wenig ausrichten. Ich sage nur ein Wort: Dirlewanger!«
»Was heißt das, Blank?«, fragt der General. »Sie sprechen in Rätseln.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, Herr General«, entgegnete der Major, »gehört dieser unglaubliche Haufen zur Brigade Dirlewanger, die in dem finsteren Ruf steht, auf Schritt und Tritt und von Himmler sanktioniert über Leichen zu gehen.«
Mit letzter Kraft ist die 3. Kompanie bei der Lastwagenkolonne angelangt. Japsend lassen sich die Männer am Straßenrand nieder, schlapp, mit stierem Blick, aber nicht mehr fähig, auch nur einen rebellischen Gedanken zu fassen. Sogar die Flüche, die sie sonst zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpressen, sind versiegt.
Untersturmführer Haake tritt forsch vor den Bataillonsführer hin, der rauchend neben seinem Pkw steht, und meldet die Kompanie vom Einsatz zurück. Mit knappen Worten berichtet er von der Einäscherung des »Partisanendorfes« und der Liquidierung seiner Bewohner.
»Gute Arbeit«, lobt ihn Hauptsturmführer Ziegler, der seinerseits darauf bedacht ist, dem Kommandeur mit Ergebnissen aufzuwarten.
Da Haake nicht abtritt, fragt er: »Sonst noch was?«
»Jawohl, Hauptsturmführer«, erklärt Haake. »Haben Sie den Generalswagen gesehen?«
Ziegler nickt. »Ja, da ist so etwas vorbeigeflitzt. Warum? Was ist damit?«
»Ich hatte einen Zusammenstoß mit dem General«, antwortet Haake grinsend. »Ein Mann von mir ist umgekippt und von dem Wagen überfahren worden. Der General wollte eine Meldung von mir. Ich hab’ ihm was gehustet. Die Folge war, dass der alte Knacker meine Waffe verlangte und seinem komischen Major den Befehl gab, mich festzunehmen. Er drohte mir mit dem Kriegsgericht, aber ich habe ihm meine MPi unter die Nase gehalten. Schließlich ist er zornrot davongefahren.«
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