»Schlafen Sie, Mädchen, und versuchen Sie zu vergessen!«
Um neun Uhr ist endlich die Verbindung zum SS-Hauptamt zustande gekommen. Die Brigade Dirlewanger z. b. V., mit Vollmachten des Reichsführers SS Heinrich Himmler ausgestattet, wie sie kein regulärer Verband der SS und keine Polizeieinheit besitzt, verfügt über diesen direkten Draht, der zuweilen wertvoller ist als eine Leitung zum Führerhauptquartier. Denn keine Institution der Partei, der Wehrmacht oder der Polizei hat soviel Machtbefugnis wie das von Obergruppenführer Berger geleitete SS-Hauptamt.
Der Kommandeur, noch übernächtigt von der ausgedehnten, in einer wüsten Orgie endenden Siegesfeier, nimmt den Hauptapparat des Feldtelefons, den ihm Obersturmführer Schnabel, der NO (Nachrichtenoffizier), reicht.
»Obergruppenführer, sind Sie’s?«, fragt er in einem Gemisch von mainfränkischem und schwäbischem Dialekt in die Sprechmuschel.
»Ja, Dirlewanger, was gibt’s?«, antwortet Obergruppenführer Berger, der im fernen Berlin an einem Schreibtisch von riesigen Ausmaßen sitzt.
»Wir haben gestern eine Bandenvernichtungsaktion durchgeführt«, berichtet Sturmbannführer Dirlewanger. »Natürlich mit Erfolg. Aber wo gehobelt wird, fallen Späne. Es hat allerhand Späne gegeben. Ich brauche Ersatz, Obergruppenführer. Können Sie allerschnellstens die ›Aktion Wilddieb‹ nochmals ankurbeln?«
»Können wir«, gibt Berger am anderen Ende der Leitung zurück. »Wir können alles, Dirlewanger, das wissen Sie ja. Aber das Ergebnis wird nicht sehr lukrativ sein. Die Gefängnisse sind so ziemlich ausgekämmt. Was halten Sie davon, wenn wir auf die KZ-Lager zurückgreifen? In Frage kämen in erster Linie Kriminelle. Auf welche Kategorien legen Sie da besonderen Wert?«
»Augenblick, Obergruppenführer«, sagt Dirlewanger, ohne lange zu überlegen, »an der Spitze meiner Wunschliste stehen natürlich Gewaltverbrecher Totschläger, Räuber, meinetwegen auch Einbrecher. Dann Zuhälter und Sittlichkeitsverbrecher – mit Ausnahme von Homosexuellen. Die kann ich in der Truppe nicht brauchen. Bis wann könnte ich mit dem Ersatz rechnen, Obergruppenführer?«
»So bald wie möglich«, entgegnet Berger. »Wir werden uns die größte Mühe geben. Sie sind ja ein toller Hecht, Dirlewanger. Man hört allerlei von Ihnen. Wissen Sie eigentlich, dass Sie einigen zartbesaiteten Mimosen auf die Nerven gehen?«
»Kann ich mir denken«, versetzt der Kommandeur der »Bluthund-Brigade«. »Verbindlichsten Dank für alles, Obergruppenführer.«
»Keine Ursache«, endet Obergruppenführer Berger und hängt ein.
Es ist ein ausgesprochenes Kuckucksei, das er der vielschichtigen Besatzung in Polen da ins Nest gelegt hat, und in jeder Hinsicht sein Geschöpf, sein Golem, um sich wieder einmal eines jüdischen Wortes zu bedienen. Seine Idee ist es gewesen, den ehemaligen Oberleutnant und mit zwei Jahren Zuchthaus bestraften Sittlichkeitsverbrecher Dr. Oskar Dirlewanger zur Bewährung nach Spanien zu schicken, ihn dann zu rehabilitieren und der Inspektion der SS-Totenkopfstandarten einzuverleiben. Er ist ein verdammt brauchbarer Schurke, dieser Dirlewanger. Die Polen zittern vor ihm. Recht so! Eine Besatzungstruppe muss Furcht und Schrecken verbreiten, wenn sie sich durchsetzen soll.
Der Obergruppenführer erhebt sich aus seinem mit Schweinsleder bezogenen Stuhl. Er wird sofort den Apparat ankurbeln, damit diesem Dirlewanger das Verbrechersortiment aus den Lagern zugestellt werden kann, bevor der Frühjahrs- und Sommerrummel draußen in Russland beginnt.
Scharführer Melzer war der verantwortliche Leiter der Lagerkartei, die in einer freistehenden Baracke in der Nähe des Lagereingangs untergebracht war, aufgereiht in langen, bis zur Decke reichenden Regalen. Doch Scharführer Melzer hatte eine Anzahl anderer Interessen, die ihn so sehr in Anspruch nahmen, dass er nur gelegentlich und in der letzten Zeit immer seltener dazukam, die Karteibaracke aufzusuchen. Melzer war früher Angestellter in der Friedhofsverwaltung einer hessischen Kleinstadt gewesen und hatte die Neigungen, die ihn nunmehr beherrschten, erst in sich entdeckt, nachdem er, dem Zug der Zeit folgend, der SS-Verfügungstruppe beigetreten war. Neben den hochprozentigen Getränken, von denen stets ein ausreichender Vorrat in seinem Quartier zu finden war, zog ihn das Lagerbordell geradezu magisch an, seitdem mit dem letzten Nachschub aus dem Frauen-KZ Ravensbrück eine attraktive Berliner Blondine eingetroffen war, mit der ihn eine seltsame heimliche Liebe verband.
Aber trotz der häufigen Abwesenheit des Scharführers wurde die Kartei, in der Hunderte von Menschenschicksalen in alphabetischer Reihenfolge registriert waren, mustergültig in Ordnung gehalten. Für Scharführer Melzer jedoch war nur das Ergebnis von Bedeutung, der Umstand dagegen, dass er sich vollständig in der Hand seines Schreibers, des Häftlings Nummer 3483, befand, beeindruckte ihn nicht übermäßig.
Jene Nummer 3483 war der Sippenhäftling Rolf von Lehr. Lehr wäre berechtigt gewesen, zivile Kleidung zu tragen – im Gegensatz zu den Juden, politischen Gefangenen und Kriminellen im Lager. Doch bei seiner Verhaftung im Gefechtsstand seines Regiments unweit der Aisne hatte er nichts anders als seine Offiziersuniform mit den Rangabzeichen eines Oberleutnants bei sich gehabt, und das Recht, sich in Uniform zu zeigen, hatte im Lager nur die SS. Die Folge war, dass auch Lehr, kahlgeschoren wie alle übrigen Häftlinge und wie diese mit einer auf den linken Oberarm tätowierten Nummer markiert, seinen Schreiberdienst in der Karteibaracke in einem unförmigen graugrünen Drillichanzug versah.
Am Morgen des 12. April 1942 erschien Scharführer Melzer unerwartet und nur mäßig betrunken in der Baracke. Lehr schrieb den Besuch einem Vorfall zu, der sich tags zuvor ereignet hatte. Der zur Aufsässigkeit neigende Kriminelle Grauert, der von Melzer zur Säuberung seines Quartiers eingeteilt worden war, hatte den Scharführer zur Weißglut gereizt. Melzer, der bereits am Vormittag mit der blonden Berlinerin eine Flasche Hennessy leergetrunken hatte, war mit dem Gummiknüppel auf Grauert losgegangen und hatte ohne eigentliche Absicht so heftig zugeschlagen, dass der Häftling Ernst Grauert, ein zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilter Sittlichkeitsverbrecher, an Gehirnblutung starb. Nach Einbruch der Dunkelheit war die Leiche von Melzer und zwei anderen SS-Männern beseitigt und unauffällig verscharrt worden. Von Grauert war nur noch das Karteiblatt vorhanden, und Lehr hatte noch keine Anweisung seines Vorgesetzten, wie er mit dem Blatt verfahren sollte.
Als Melzer die Baracke betrat, erwartete Lehr, der Scharführer komme wegen des überzähligen Karteiblattes, das die Ordnung der ganzen Kartei durcheinanderbrachte. Doch Melzer erwähnte Grauert nicht.
»Es gibt Arbeit für uns«, erklärte er. Das SS-Hauptamt fordert Kriminelle an, die sich freiwillig für den Fronteinsatz im Osten melden.«
Rolf von Lehr erkannte sofort die Gelegenheit, die sich ihm bot, den elektrisch geladenen Stacheldraht des Lagers hinter sich zu bringen.
Als Melzer eine Liste mit Namen auf den Schreibtisch legte und dazu bemerkte, die Liste sei noch nicht vollständig, sie werde im Laufe des Tages noch durch weitere Namen ergänzt, stand Lehrs Entschluss bereits fest.
»Wir setzen Ernst Grauert auf die Liste«, sagte er, ohne zu zögern.
Melzer wiegte bedenklich den Kopf, auf dem die feldgraue Mütze mit dem Hoheitsadler und dem silbernen Totenkopf saß.
»Geht nicht«, meinte er. »Überlegen Sie doch, Lehr, wenn die Freiwilligen in Oranienburg ankommen, wo sie endgültig eingekleidet werden, fehlt der Mann. Käme höchstens die Auslegung in Frage, dass er auf dem Transport entsprungen ist. Aber wer glaubt das?«
»Ist ja gar nicht nötig, Scharführer«, widersprach Lehr, den Blick fest auf den leicht schwankenden und erkennbar verunsicherten SS-Mann gerichtet. »Ich verwandle mich in Grauert und gehe an seiner Stelle. Und Sie melden, der Sippenhäftling Lehr habe sich das Leben genommen, und Sie hätten ihn, um kein Aufsehen zu erregen, in der früheren Selbstmörderecke begraben lassen. Alles klar, was?«
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