Scharführer Melzer wich dem Blick des ehemaligen Oberleutnants aus.
»Machen Sie keine Geschichten, Lehr«, murmelte er. »Sie wissen doch selbst, das haut nicht hin.«
Lehr lachte auf: »Es gibt keinen anderen Ausweg für Sie, Scharführer. Oder ist es Ihnen lieber, dass ich dem Kommandanten melde, was Sie mit Grauert angestellt haben? Wenn die Leiche ausgegraben wird, gibt es an der Todesursache keinen Zweifel. Für Sie bedeutet das Degradierung und Abstellung an die Front.«
Melzers feistes Trinkergesicht verfiel.
»Ich habe Sie immer anständig behandelt«, murmelte er kleinlaut. »Warum tun Sie mir das an?«
»Weil ich nicht weiß, was ich mit dem Karteiblatt anfangen soll«, entgegnete Lehr. »Bei mir wäre das etwas anderes. Sie wissen ja, Scharführer, Sippenhäftlinge sind ein lästiges Übel im Lager. Ich wette, Himmler zeichnet Sie mit dem Kriegsverdienstkreuz aus, wenn Sie mich verschwinden lassen. Sie müssen sich jetzt entscheiden. Entweder ich melde mich als Grauert zum Fronteinsatz, oder das Karteiblatt geht so, wie es ist, zur Kommandantur.«
Melzer wand sich immer noch, obgleich er schon halbwegs überzeugt war. Wenn dieser Lehr, der ihm an Intelligenz weit überlegen war, die Drohung wahr machte, hieß es für ihn, vom Lager und von der blonden Kitty Abschied zu nehmen. Wie hatte er sich auch nur dazu hinreißen lassen können, den widerwärtigen Burschen so fest auf den Kopf zu schlagen? Jetzt legte Lehr ihm die Quittung vor. Da er Mitwisser war, ließ sich der Fall Grauert nicht vertuschen. Vielleicht konnte er sogar mit der Verbrennungsabteilung ein Abkommen treffen. Französischer Kognak war äußerst begehrt, und seine Bestände übertrafen zweifellos die des Lagerkommandanten. Lehr hatte recht. Ihn konnte man gefahrlos verschwinden lassen.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Der Transport wird heute spätabends zusammengestellt. Ich habe nur den einen Wunsch, dass Sie dort so bald wie möglich ins Gras beißen.«
»Vielen Dank, Scharführer«, entgegnete Lehr gelassen und ging daran, die Karteiblätter derjenigen Häftlinge auszusortieren, die bereits auf der Liste der Freiwilligen standen.
Wenn ich erst wieder Uniform trage und vielleicht sogar bewaffnet bin, dachte er, gibt es sicherlich einen Weg zur Flucht. Sein Vater, Oberstleutnant Edler von Lehr, hatte sich Anfang Mai 1940 in Norwegen der Verhaftung durch die Geheime Feldpolizei entzogen. Wenn er nicht auf dem Wege über die Berge umgekommen war, hatten die Schweden ihm Asyl gewährt. Schweden war auch das Ziel des Oberleutnant Rolf von Lehr, der wie die übrigen Angehörigen des geflüchteten Widerständlers im Mai 1940 in Sippenhaft genommen worden war. Der erste Schritt war getan. Der zweite würde folgen, wenn er am Abend als der Kriminelle Ernst Grauert dem Lager den Rücken kehrte, in dem er jetzt seit beinahe zwei Jahren saß.
Ein SS-Mann erschien in der Baracke, grüßte den Scharführer mit steif ausgestrecktem Arm, legte eine neue Liste mit Namen auf den Schreibtisch und trat nach einer Kehrtwendung strammen Schrittes ab.
Scharführer Melzer pfiff leise zwischen den Zähnen. Die neue Liste enthielt wiederum mehr als hundert Namen. Bei soviel Bewegung im Lager, das sonst nur Abgänge durch Tod zu verzeichnen hatte, war es ohne weiteres möglich, einen Mann unter falschem Namen in den Transport für den Osten einzuschmuggeln. Nur gut, dass – wohl infolge der Anforderung durch das SS-Hauptamt – der Morgenapell ausgefallen war. Voller Angst hatte Melzer daran gedacht, was geschehen würde, wenn der Kriminelle Grauert beim Appell fehlte. Aber diese Klippe war glücklich umschifft worden. Er warf einen ärgerlichen Seitenblick auf den ehemaligen Offizier, der es gewagt hatte, mit der Meldung beim Kommandanten zu drohen. Höchste Zeit, dass Lehr aus dem Lager verschwand! Draußen im Osten würde der unliebsame Mitwisser ohnehin bald »verheizt« werden. Bei Dirlewanger hatte ein Mann keine hohe Lebenserwartung. Das wusste die ganze SS.
»Machen Sie die Papiere fertig!«, befahl er bissig dem belustigt stramm stehenden Lehr. »Und lassen Sie sich möglichst wenig im Lager blicken! Alles Weitere werde ich heute Abend deichseln.«
Melzer verließ die Baracke und ging quer über den weiten, öden Hof zu seiner Unterkunft. Lehr blickte ihm durchs Fenster nach. Sicherlich wartete die üppige Blondine bereits auf ihren Scharführer, dem es offenbar gleichgültig war, dass er ihre Gunst mit vielen anderen teilen musste.
Vor Block acht trat unter dem Gebrüll der Kapos ein Arbeitskommando an. Die ausgemergelten, gebeugten Häftlinge trugen gestreifte Kleidung und den gelben Davidstern. Zwei mit Karabinern bewaffnete SS-Leute erschienen. An der kurz gehaltenen Leine führten sie auf den Mann dressierte Hunde.
Lehr trat vom Fenster zurück und begann die Papiere der Männer auszusondern, die sich zum Frontdienst gemeldet hatten. Als er den Akt »Ernst Grauert« in der Hand hatte, hielt er inne und überflog die Dokumente des Mannes, den er fortan darstellen würde, bis sich eine Gelegenheit zum Desertieren fände. Grauert hatte als Fahrer in einer Trosseinheit am Vormarsch in Russland teilgenommen. In ostpolnischen und ukrainischen Dörfern hatte er minderjährige Mädchen, auch Jüdinnen, vergewaltigt, war zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und aus der Wehrmacht ausgestoßen worden. Für die Dauer des Krieges hatte man ihn ins KZ gesteckt. Nach Kriegsende sollte Grauert seine Zuchthausstrafe verbüßen. Lehr schüttelte sich schaudernd bei dem Gedanken, als Ernst Grauert an die Front zu gehen, wenn auch zweifellos zu einer Einheit, die nur aus Kriminellen und Vorbestraften bestand. Aber alles war besser als in diesem Lager unter unfassbaren Erniedrigungen zu verschimmeln und eines Tages im Verbrennungsofen zu landen, wenn die Sippenhäftlinge an der Reihe waren.
Mit ruhiger Hand schrieb er die Personalien des Sittlichkeitsverbrechers Ernst Grauert auf die Transportliste. Für alles Übrige würde Scharführer Melzer sorgen, der mit seinen Kognakvorräten viele Türen öffnete, die allen anderen verschlossen waren.
Nicht im Entferntesten kam Lehr auf den Gedanken, dass er seinen Lagervorgesetzten, dem er manches Privileg und nun sogar die Befreiung aus einem Dasein zermürbender Ungewissheit verdankte, schon bald unter bemerkenswerten Umständen wiedersehen würde.
Nach Einbruch der Dunkelheit traten die »Freiwilligen« in einer langen, dreigliedrigen Linie auf dem Lagerhof an. Anstelle der gestreiften, mit den schwarzen Flicken der Kriminellen gekennzeichneten Häftlingskleidung hatte man ihnen auf der Lagerkammer feldgraue Uniformen ohne Kragenspiegel, Schulterklappen und Hoheitsabzeichen verpasst, dazu Krätzchen ohne Kokarde und fadenscheinige Decken, die sie zusammengerollt unter dem Arm tragen mussten. Rolf von Lehr, der nunmehr und vielleicht für immer Ernst Grauert war, hatte den Eindruck, dass unter seinen zukünftigen »Kameraden« keiner war, der nicht bereits gedient hatte. Sicherlich hatte man nur auf ehemalige Soldaten zurückgegriffen, die zwar »wehrunwürdig« waren, aber jetzt in Anbetracht der Verluste des fortschreitenden Krieges doch an der Front benötigt wurden.
Sie zählten ab. Insgesamt waren es 218 Mann, also sogar mehr als eine auf volle Kriegsstärke gebrachte Kompanie.
Der SS-Führer, der die Kommandos gab, befahl »rechtsum« und »im Gleichschritt marsch!« Die in Züge eingeteilte Kolonne setzte sich in Bewegung und nahm Richtung zum Lagertor, das sonst nur die draußen im Steinbruch und auf den Rübenfeldern beschäftigten Arbeitskommandos passieren durften. Bewaffnete SS-Leute mit ihren Hunden begleiteten die Häftlinge auf ihrem Weg aus dem verhassten Lager.
Die langgestreckten, niedrigen Baracken lagen in völliger Dunkelheit. Auf den mit MG-Posten besetzten Wachtürmen blinkten Scheinwerfer auf und erloschen wieder.
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