Das Peitschen von Schüssen reißt Valeska aus ihren Gedanken. Eine Handgranate explodiert mit dumpfem Krachen. Ein langgezogener, grässlicher Schrei hallt durch den Wald. Der Junge! Sie haben ihn entdeckt. Maria im Himmel, gib ihm einen gnädigen Tod!
Valeska wagt es nicht, ihr Versteck hoch über der Erde zu verlassen. Zu sehen ist nichts mehr. Die Angreifer sind vorbeigezogen. Aber niemand kann sagen, ob nicht Sicherungen zurückgeblieben sind.
Nach einer Weile hört Valeska die dicht aufeinander folgenden Detonationen hochgehender Minen. Dann bricht Gewehrfeuer los. Maschinengewehre spucken schnarrend ihre Salven aus. Gebrüll hebt an. Immer verworrener und wilder tobt der Gefechtslärm. Valeska presst die Fäuste gegen die Ohren. Der Todeskampf der Partisanengruppe des Kapitäns Lipski hat begonnen.
In weitem Umkreis haben sich die Kompanien der »Bluthund-Brigade« an das Waldlager herangeschoben. Ein gefangener Partisan hat zwei Tage zuvor die Lage des Stützpunktes verraten. Unter der Folter hat er dem teuflisch grinsenden Vernehmungsoffizier alle Einzelheiten gestanden. Auch von der Minensperre hat er berichtet, bevor er mit ausgerenkten Gliedern, zerquetscht, zerschunden und geblendet, vom Tod erlöst wurde.
Das Wissen um die Minensperre hat weder den Kommandeur der Brigade noch die Offiziere des Stabes oder die Kompanieführer beeindruckt. Ihre Untergebenen sind für sie nicht mehr als die Partisanen, die man in ihrem Schlupfwinkel ausheben und vernichten wird. Die »Bluthund-Brigade« braucht keine Pioniere zur Beseitigung der Minen. Was bedeutet es, wenn zwanzig, dreißig Mann oder mehr beim Durchbrechen der Sperre draufgehen? Es gibt genügend Gesindel, mit dem man die Lücken füllen wird. Der Reichsführer wird zufrieden sein, wenn die unnützen Fresser, die in den Gefängnissen, den Zuchthäusern und den KZ-Lagern das Brot des deutschen Volkes kauen, einer dem Endsieg dienlichen Aufgabe zugeführt werden.
Rücksichtslos haben die Offiziere und Unterführer, die wie diese den SS-Totenkopf-Standarten entstammen, und die Sperrkommandos des SD die Männer gegen die Minensperren vorgetrieben. Über die blutüberströmten zerrissenen Körper der Gefallenen hinweg sind die anderen, die im Rücken die schussbereiten Waffen der Antreiber wissen, weiter vorgedrungen. Das Feuer einzelner Baumschützen wird rasch mit gutgezielten Schüssen zum Schweigen gebracht. Als sie aber zwischen den Bäumen die getarnten Bunker erblicken, schlägt ihnen wütendes Feuer entgegen.
Kapitän Lipski bedient ein sowjetisches Maschinengewehr mit aufgesetztem Patronenteller. 1939, in der Tucheier Heide, hat er im Sattel gekämpft, mit gezogenem Degen, an der Spitze seiner Schwadron – zu Pferd gegen deutsche Panzer. Aber die Zeit ist weitergegangen. Es ist Frühjahr 1942. Er schwenkt den Lauf eines russischen Maschinengewehrs. Rhythmisch und hart stößt der Kolben gegen seine Schulter. Während seine Hände mechanisch einen neuen Teller aufsetzen, beobachtet er fasziniert durch die Scharte, wie die Deutschen ins Feuer rennen. Ihre Gesichter sind verkniffen. An ihren Karabinern, die sie blindlings im Laufen abschießen, blitzen die aufgepflanzten Bajonette. Wie Insekten, die ins Licht taumeln und verbrennen, springen sie in die hageldicht prasselnden Geschossgarben, lassen sich niedermähen, als suchten sie den Tod. Andere stürmen über die verkrümmten, zuckenden Körper hinweg, fallen und werden von neuen Wellen abgelöst.
Kapitän Lipski und seine Partisanen schöpfen auf einmal Hoffnung. Wie lange wird es dauern, bis die Angreifer verblutet sind?
Doch auf einmal ändert sich ihre Taktik. Sie nähern sich kriechend, suchen hinter den Gefallenen Deckung, auch hinter schreienden Verwundeten.
Lipski feuert weiter. Plötzlich versagt das russische Maschinengewehr. 1941, nach dem Angriff der Deutschen am Bug, hat es ein polnischer Partisan einem toten Rotarmisten abgenommen.
Eine Handgranate detoniert vor der Bunkerscharte. Als der Qualm sich verzogen hat, sind die Angreifer näher gekommen. Sie schieben die Körper ihrer eigenen Gefallenen als Kugelfang vor sich her. 1939 haben sie nicht mit derart barbarischen Methoden gekämpft.
Im Vorfeld explodieren krachend Werfergranaten. Trichter bildet sich neben Trichter. Die Einschläge rücken näher. Etliche liegen schon vor, auf oder neben den Bunkern. Es ist, als bäume die Erde sich auf. Deutsche Maschinengewehre mit rasend schneller Schussfolge hämmern gegen die Scharten.
Im Pulverqualm sinkt eine Gestalt neben Kapitän Lipski zu Boden. Er reißt das MG, dessen Ladehemmung sich nicht beseitigen lässt, aus der Scharte, greift zum Karabiner des tierisch brüllenden Verwundeten, der neben ihm auf der festgestampften Erde mit den Armen um sich schlägt. Lipski legt an, zielt. Als das Geschoss den Lauf verlässt, trifft ihn ein Schlag gegen die Stirn. Rote Nebel kreisen vor seinen Augen, mit letzter Kraft krümmt er den Finger durch. Der Rückschlag droht ihn umzuwerfen. Wieder prallt etwas wie eine Riesenfaust in sein Gesicht. Die Waffe entgleitet ihm, er reißt beide Arme hoch, stürzt schwer hintenüber. Das Letzte, was er spürt, ist, wie grobe Hände ihn zur Seite zerren.
Das Abwehrfeuer der Partisanen stockt, flackert wieder auf. Handgranaten fliegen in die Scharten, zerbersten donnernd und alles zerschmetternd im Innern der Bunker. Die Granatwerfer haben ihr Feuer eingestellt. Die Abwehr erlischt, der Gefechtslärm ebbt ab und verstummt.
Die Angreifer dringen in die Bunker ein. Wer noch lebt, wird von Bajonetten durchbohrt. »Keine Gefangenen!«, lautet der Befehl.
Bebend, die Zähne zusammengebissen, um nicht zu schreien, hat Valeska den Kampf aus der Ferne verfolgt. Sie weiß, was die Stille bedeutet, die jetzt eingetreten ist. Es ist zu Ende. Ihre Warnung hat einen Aufschub gebracht, nur einen kurzen Aufschub. Aber sie weiß auch, dass die Hinauszögerung des Unausbleiblichen die Deutschen viel Blut gekostet hat.
Stimmen werden laut, unbekümmerte Stimmen, und das Rascheln von Schritten. Valeska erblickt eine Gruppe von Offizieren. Ein Mann mit geflochtenen Majorsschulterstücken geht einen Schritt voraus. Wie die anderen trägt auch er den Adler mit den ausgebreiteten Schwingen und dem Hakenkreuz am linken Ärmel. Der Mützenschirm beschattet ein Gesicht, das erschreckend an die Physiognomie eines Totenschädels erinnert. Die Augen unter buschigen dunklen Brauen sind tief eingesunken. Faltige Tränensäcke haben sich darunter gebildet. Die Nase ist klobig wie bei einem Boxer. Über dem breiten, schmallippigen Mund sitzt ein dichter, dunkler Schnurrbart.
Valeska beobachtet scharf, prägt sich die Züge des Mannes ein, den sie zum erstenmal leibhaftig erblickt. Sie weiß, dass sie sich nicht täuscht. Es ist SS-Sturmbannführer Dirlewanger, die Geißel Polens, tausendfach verflucht und verwünscht. Allen Anschlägen ist er entkommen, als wäre er mit dem Teufel im Bund.
Unwillkürlich tastet sie nach der Pistole. Ihre Hand ist schweißig und zittert. Sie könnte die Waffe nicht ruhig halten, um einen sicheren Schuss anzubringen. Im Übrigen darf sie nicht schießen. Sie ist Kurier mit wichtigen Aufgaben, unersetzlich für die Patrioten Polens, die heimlich weiterkämpfen, von der Hoffnung getragen, dass einmal die Stunde der Befreiung kommt.
Hasserfüllt blickt sie den Offizieren nach. Das Gefecht ist beendet. Der Kommandeur ist mit seinem Stab unterwegs, um das Gefechtsfeld zu besichtigen.
Geduldig wartet sie im Wipfel der hohen Kiefer. Ihre Hände sind klebrig vom Harz. Sie wartet, bis die Deutschen endlich aus dem Wald abgezogen sind. Draußen auf der Straße werden die Geräusche von Fahrzeugmotoren laut. Aber sie wartet noch eine Stunde, bis sie es wagt, ihren luftigen Sitz in den Zweigen zu verlassen. In einer Anwandlung von Schwäche lehnt sie sich gegen den rauen Stamm des Baumes, der ihr Zuflucht gewährt hat.
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