Verwunderung und Bestürzung malen sich auf den zerfurchten Zügen des alten Mannes, als plötzlich Geschosse über ihn hinweg und an ihm vorbei schwirren. Der Gedanke, sich in Deckung zu werfen, kommt ihm nicht, weil er es nicht fassen kann, dass die Schüsse ihm gelten könnten.
Der Ochse, ein schweres Tier mit falbem Fell, brüllt auf, senkt den Schädel, als entsinne er sich der Zeit, da er noch ein junger, stürmischer Bulle war. Seine Hörner wühlen die Erde auf. Sein Brüllen verröchelt. Das Tier sackt unter neuen Schüssen zusammen, und zugleich stürzt der alte Pole lautlos hintenüber.
Im Laufschritt jagen einhundertzwanzig Mann, die am schwarzen Kragenspiegel das Abzeichen der »Bluthund-Brigade« tragen, auf das Dorf zu, das für Untersturmführer Haake den Feind verkörpert, der sich wieder einmal nicht gestellt hat.
Gemächlich ausschreitend, folgt Haake seiner Kompanie. Er weiß, dass diese Höllenbrut ganze Arbeit leisten wird. Er weiß auch, dass das, was er der Kompanie befohlen hat, durchaus den Absichten des Kommandeurs entspricht. »Ausrotten und Niederbrennen« ist Sturmbannführer Dirlewangers Wahlspruch. Früher, als er nur seine Wildschützen zur Verfügung hatte, wurde die Parole nicht immer ganz nach seinen Wünschen befolgt. Aber neuerdings, seitdem die Kompanien mit Kriminellen durchsetzt sind, kann der Sturmbannführer zufrieden sein.
Wie alle »Offiziere« der Brigade befiehlt auch Untersturmführer Haake Brand und Mord, um sein Bewährungssoll zu erfüllen. Bevor die Bewohner des Dorfes, um dessen Namen sich Haake nicht kümmert, auch nur im Entferntesten ahnen, was ihnen bevorsteht, hat die 3. Kompanie die kleine Ansammlung strohgedeckter Bauernkaten umstellt.
Alte und junge Frauen, junge Mädchen, Kinder und schwerfällig humpelnde Greise versammeln sich auf dem Dorfplatz vor der winzigen Kapelle, die von einer mächtigen Linde beschattet wird. Alle sind verängstigt. Sie haben vor Kurzem die Schüsse gehört, wenn ihnen auch verborgen geblieben ist, was sich draußen auf dem Acker ereignet hat.
Haake sitzt draußen vor dem Dorf auf einem Feldstein und raucht eine Zigarette. Er hört Geschrei und zieht genießerisch den Rauch ein.
Vom Grauen gepackt, vernimmt Ernst Grauert, wie Rottenführer Klein seinem Zug den Befehl gibt, »in dem Kaff aufzuräumen«. Starr vor Entsetzen sieht er, wie der Schwarzbärtige, der ihn am Abend durch die Tür gestoßen hat, sich eines der Mädchen greift und das jämmerlich schreiende Geschöpf in eines der nächsten Häuser zerrt, wie andere dem Beispiel des Bärtigen folgen, aber es nicht einmal für nötig halten, ihre tierischen Begierden unbeobachtet zu befriedigen.
Um Gnade flehende Greisinnen und Greise brechen unter Kolbenhieben zusammen. Einer packt ein kreischendes Kind an den Beinen und zerschmettert den Schädel an der Mauer der Kapelle.
Rottenführer Klein drückt Grauert den Lauf seiner Maschinenpistole in den Rücken.
»Was ist los, du kahlköpfiger feiner Pinkel? Wirst du wohl …«
Was soll ich tun, denkt verzweifelt der ehemalige Oberleutnant, der ins Unglück geraten ist, weil sein Vater sich ermannt hat, gegen Hitlers Diktatur zu kämpfen. Erfordert es nicht die Ehre, lieber auf der Stelle zu sterben, als sich an wehrlosen Menschen zu vergreifen?
Ein struppiges Panjepferd, das sich im Stall losgerissen hat und scheuend durch das Dorf galoppiert, enthebt ihn für dieses Mal der Entscheidung.
Der rasende Gaul rennt den Rottenführer um, rennt ins Gedränge der Unglücklichen, schleudert alles, was ihm im Wege ist, zu Boden und gewinnt schließlich das freie Feld.
Grauert hat sich die Verwirrung zunutze gemacht und ist in den Büschen verschwunden, die neben dem Haus aufwachsen, in das der Bärtige sein schreiendes Opfer gezerrt hat. Gequältes Geheul dringt an sein Ohr, ein dumpfer Schlag, dann wird es still.
In seinem Versteck beobachtet Grauert, wie der Bärtige durch die Tür tritt, von dem niedrigen Dach aus Stroh ein Strohbüschel reißt, das Stroh anzündet und das brennende Büschel mit Schwung auf das Dach schleudert, das sofort hellauf in Flammen steht.
Indessen hat eine Gruppe von Kleins Zug den Rest der Dorfbewohner in die Kapelle getrieben. Vor dem Eingang wird Stroh aufgehäuft. Ein brennendes Streichholz fällt in das Stroh.
Grauert presst eine Hand vor die Augen. Wie gut, dass die Flammen, die nun überall aufschießen, so laut prasseln, dass das Schreien der Menschen, die in der Kapelle, vom Rauch halb erstickt, den Feuertod erleiden müssen, fast ganz übertönt wird.
Wind kommt auf. Rasend schnell breitet das Feuer sich über das ganze Dorf aus. Kühe, ein paar Schweine und eine kleine Herde angstvoll meckernder Ziegen brechen aus den Ställen aus, jagen im Kreis herum, bis sie einen Ausweg durch Rauch und Flammen finden.
Bei dem Feldstein, auf dem Untersturmführer Haake rauchend sitzt, tritt die 3. Kompanie an. Der SS-Offizier steht auf, wirft einen kurzen Blick auf das brennende Dorf, aus dem noch immer Schreie gellen, tritt an die Spitze der Kompanie und gibt gleichmütig den Befehl zum Abmarsch.
Die 3. Kompanie hat den Wald in weitem Bogen umgangen und die breite, zeitweilig mit Fahrzeugen von Wehrmacht und Polizei belebte Straße erreicht.
»Gleichschritt!«, befiehlt Untersturmführer Haake. »Ein Lied!«
Einer beginnt mit aufsässig grölender Stimme: »Es ist so schön, Soldat zu sein …«
Zwei, drei andere fallen ein, geraten aus dem Takt. Das Lied endet in Gelächter, das höhnisch in Haakes Ohren klingt.
»Schluss! Aufhören!«, brüllt er mit überschnappender Stimme. »Gas! Gaaas!«
Blechbüchsen klappern, die Gasmasken werden über Gesichter gestülpt, aus denen alle Gefühle aus der gesamten Skala zwischen Wut, Hass und ohnmächtiger Empörung beredten Ausdruck finden. Die Alten wissen, was jetzt seinen Anfang nimmt, die Neuen werden bald erfahren, was es bedeutet, den Zorn des Kompanieführers herauszufordern.
Rottenführer Klein und die beiden anderen Zugführer haben den Befehl zwar weitergegeben, aber nicht auf sich bezogen.
»Gasalarm!«, brüllt der Untersturmführer. »Das gilt für alle, auch für die Zugführer! Klein, Schnabel, Muck, Gasmasken raus!«
Die Zugführer gehorchen. Sie kennen den Untersturmführer zur Genüge und sind sich darüber klar, dass er zu allem fähig ist.
Haake steht am Straßenrand. Ein böses Grinsen verzerrt sein hageres, von Ausschweifungen verwüstetes Gesicht. In seinen schmal gekniffenen Augen klimmt ein Ausdruck kalter Entschlossenheit.
»Laufschritt!«, befiehlt er. »Ein Lied!«
Mit den geschmeidigen Bewegungen eines Langstreckenläufers hält er spielerisch und federnd mit den schwer atmenden, plump unter der Last ihrer Ausrüstung torkelnden Gestalten Schritt, die an rüsseltragende Fabelwesen aus einer anderen Welt erinnern. Aber sind sie nicht aus einer anderen Welt, ausgeliefert, rechtlos wie Schlachtvieh?
Der Gedanke, mit seiner Maschinenpistole in die hüpfende graue Masse hineinzuhalten, lässt Haake nicht mehr los.
»Ein Lied!«, wiederholt er, obgleich er weiß, dass er es nicht hören könnte, selbst wenn die Kompanie Geschundener imstande wäre, seinen Befehl auszuführen.
Haake achtet nicht auf den schwarzen, auf Hochglanz polierten Mercedes, der aus der Richtung Lublin herankommt. Am Kotflügel des Wagens ist ein schwarz-weißroter Divisionsstander befestigt.
Auf der weich gepolsterten, mit hellem Leder bezogenen Bank im Fond sitzen der Divisionskommandeur General von Wangen und Major Blank, sein Adjutant. Der General kehrt nach kaum ausgeheilter Verwundung von einem kurzen Urlaub zurück. Major Blank hat ihn am Bahnhof in Lublin mit dem Wagen in Empfang genommen.
Vorn am Fahrersitz hält mit unnachahmlicher Gelassenheit der Stabsgefreite Übelhack das Lenkrad in beiden Händen. Übelhack fährt den General seit Beginn des Russlandfeldzuges. Er hat ihn sicher durch Feuerüberfälle der feindlichen Artillerie gesteuert, durch Schlachtfliegerangriffe und über von Granaten aufgerissene oder von meterhohen Schneewehen versperrte Straßen.
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