Für die Jakobiner in der Französischen Revolution ging es somit darum, die öffentliche Sphäre vor Mängeln und Missbrauch eines Systems der permanenten Machtdelegation zu schützen, dessen zwangsläufige Unvollkommenheit sie anerkannten. Dies ging so weit, dass sie den Schutz des Volkes durch nicht gewählte, nicht dem demokratischen Delegierungsprinzip unterworfene Aufseher vorschlugen – ein Paradox, das vielleicht auch einem Eingeständnis gleichkam. Ihnen zufolge war dies die einzige Möglichkeit, ein Gegengewicht zu der vom repräsentativen System selbst hervorgebrachten Enteignung der Souveränität zu schaffen. Die Anerkennung des demokratischen Grundsatzes der formellen Gleichheit machte zwangsläufig die soziale Ungleichheit erkennbar, die sein Fundament bildet. Im Bewusstsein, wie gefährlich es war, dem aufständischen Volk die Ausübung seiner Souveränität zu verwehren, waren die Jakobiner durchaus bereit, dessen Handeln – in gewissen Grenzen – als ein Druckmittel gegenüber dem repräsentativen System zu akzeptieren: eine Art souveräne Ausnahme. Dieses Arrangement illustriert Peter Kropotkins Auffassung, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung seien die Jakobiner grundsätzlich eine opportunistische Strömung gewesen: »Der Jakobinerklub hat die Revolution nicht geleitet, er ist ihr vielmehr nur gefolgt. […] der Geist des Klubs wechselte mit jeder neuen Krise.« 11Laut Kropotkin, der in seiner Studie zur Französischen Revolution das Handeln des Volkes in den Mittelpunkt rücken wollte, überzeichnete die spätere Geschichtsschreibung die Fähigkeit der Jakobiner zur Initiative, deren gesellschaftliche Rolle in Wirklichkeit eine geringere gewesen sei. 12
Tatsächlich war es das Eintreten des Volkes für die ungeschmälerte Ausübung seiner Souveränität, was Rhythmus und Verlauf der Revolution bestimmte und die zwei rivalisierenden Hauptströmungen, die Montagnards (oder Bergpartei) und die Girondisten, im Zuge der Ereignisse immer wieder zu Veränderungen ihrer Position zwang. Erkennbar vor allem in der Gewalt gegen die Widerstände des Ancien Régime in den Jahren 1792 und 1793, vollzog sich dieser Kampf des Volkes durch die revolutionären Sektionen und Klubs, die zum Nationalkonvent – der auf zwei Ebenen gewählten repräsentativen Versammlung – auf Abstand gingen. Als Organe des öffentlichen Lebens, die sich miteinander verbanden und gemeinsame, in den Augen der Nationalversammlung teilweise illegale Aktionen durchführten, drückten die Pariser Sektionen einen Geist der spontanen Organisation aus. Den Parisern gelang es zudem, neben der Nationalversammlung »eine tatsächliche Gewalt festzusetzen, die die revolutionären Tendenzen« 13in der Bevölkerung verkörperte: die Pariser revolutionäre Kommune, entstanden am 9. August 1792 und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Verwaltungsorgan, das bereits seit Juli 1789 existierte. Dessen Bezirke (aus denen später die Sektionen wurden) bildeten allerdings den Rahmen, in dem von Juli 1789 an die Debatte über das »imperative Mandat« – so die damals gebräuchliche Bezeichnung für direkte Demokratie – an Schwung gewann.
Die revolutionäre Kommune forderte eine direkte Regierung des Volkes. Darin bestand der Höhepunkt eines Aufstands, in dessen Verlauf die Straße solange Druck auf das Königtum ausübte, bis es abgeschafft und die Republik proklamiert wurde. Die »Kommune will sich […] selbst Gesetze geben und sich selbst soviel als möglich direkt verwalten; die Repräsentativregierung soll auf ein Minimum beschränkt werden; alles, was die Kommune direkt tun kann, soll von ihr ohne Zwischeninstanz, ohne Delegation oder durch Delegierte entschieden werden, die nur die Rolle besonderer Mandatare haben, die unter der unausgesetzten Kontrolle ihrer Auftraggeber stehen«. 14Die zögerliche Haltung der Nationalversammlung und später des Konvents sowie die Furcht vor der Kommune und einer Radikalisierung der Straße verstärkten den Drang bürgerlicher Strömungen nach einer Begrenzung, Korrektur oder sogar Unterdrückung der Souveränität des Volkes. Dass sich das Prinzip der direkten Demokratie, das in frontalem Gegensatz zum jakobinischen Gedanken der Repräsentation stand, so rapide in den unteren Klassen ausbreitete, beunruhigte das revolutionäre Bürgertum. Insofern kann man der Behauptung, dass »das Misstrauen gegenüber den vom Volk spontan geschaffenen Entscheidungsformen und -organen sowie schließlich ihre Unterdrückung« deutlich den bürgerlichen Charakter der Revolution bezeugten, nur zustimmen. 15
Obwohl Kropotkin lediglich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossenen Quellen zur Verfügung standen, erwies er sich mit seiner Studie über die Revolution als ein ernstzunehmender Historiker. Dabei machte er ihre verschiedenen politischen Optionen deutlich, arbeitete die Prinzipien der damaligen sozialen Bewegung heraus und bezog sie auf die Zukunft, indem er sie als Vorläufer des modernen politischen Radikalismus begriff: Die Französische Revolution war »die Quelle aller kommunistischen, anarchistischen und sozialistischen Anschauungen unserer Zeit«. 16
DIE VERDRÄNGUNG DES REVOLUTIONÄREN GEISTES
Ohne uns im komplexen Verlauf der Französischen Revolution zu verlieren, müssen wir uns an dieser Stelle einige ihrer Hauptkräfte vergegenwärtigen. Zunächst die Bedeutung der Volksorganisationen, der Komitees und Sektionen. Ohne dieses revolutionäre Ferment, diesen Radikalismus der Straße, wäre das politische Leben in den Klubs genauso unvorstellbar gewesen wie die scharfen Konflikte zwischen den Hauptströmungen der Revolution. Auch ein sozialdemokratischer Theoretiker wie Karl Kautsky, der schwerlich zur Unterstützung einer schöpferischen Spontaneität neigte, erkannte ein Jahrhundert später an, dass die wichtigsten Momente der Revolution aus der Erhebung des Volkes und seiner kollektiven Initiative hervorgegangen waren: »die bedeutendsten Beschlüsse der verschiedenen Nationalversammlungen, der Konstituante, der Legislative, des Konvents bestätigten nur, was das Volk bereits getan; in den revolutionären Kämpfen zeigten sich diese Versammlungen haltlos, Direktiven vom Volk empfangend, nicht sie ihm gebend«. 17Geist und Energie der Revolution verlagerten sich ständig, je nachdem, wie sich die Funktion von Organisationen wandelte. Kropotkin zählte zu den Autoren, die diese jeder revolutionären Situation eigene Bewegung plastisch darzustellen vermochten. Im Zusammenwirken von politischem Handeln und den Widersprüchen des revolutionären Prozesses büßten die Volksorganisationen ihre ursprüngliche souveräne Funktion zusehends ein und verwandelten sich in Rädchen der Staatsmaschinerie. So gelang es dem zentralisierten Staat, den Komitees und Sektionen, die das Fundament der revolutionären Kommune bildeten, ihre gesellschaftlichen Funktionen zu nehmen und sie der eigenen Bürokratie zu unterwerfen. Entscheidend für diese Unterordnung unter den Nationalstaat war das große Gewicht, das polizeiliche Aufgaben der sozialen Kontrolle und Repression erlangten, nachdem ausländische Mächte der Revolution den Krieg erklärt hatten. »Der Staat hatte sie verschlungen. Und ihr Tod war der Tod der Revolution «, schrieb Kropotkin über die Sektionen und zitierte Michelets Bemerkung, dass »das öffentliche Leben in Paris vernichtet« worden sei. 18Das Zentrum der Revolution verschob sich daraufhin in die Klubs, was die Auslöschung der Kommune und sodann der radikalen Enragés erleichterte. Die Tatsache, dass die Jakobiner die revolutionäre Kommune 1793 gegen die Montagnards unterstützten, nur um sich ein Jahr später gegen sie zu wenden und die führenden Köpfe der Hébertisten – Chaumette und Hébert – hinzurichten, ist ein weiterer Beleg für das politizistische und insofern opportunistische Wesen dieser Strömung des radikalen Bürgertums.
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