Jenseits dieser Gewissheiten kann alles hinterfragt und diskutiert werden; das vorliegende Buch versteht sich insofern als Beitrag zu einer notwendigen Erneuerung. Indem wir unseren Streifzug mit den jüngeren Bewegungen und den durch sie ausgelösten Debatten abschließen, versuchen wir zu zeigen, dass sie eine Nähe zu Strömungen des »wilden Sozialismus« aufweisen. So widersprüchlich und begrenzt sie auch sein mögen, lösen sie sich doch von den Prinzipien und Zielen eines Sozialismus der Führer, der Partei, die sich im Besitz des für die Veränderung nötigen Wissens wähnt. Bislang sind diese Bewegungen von den institutionalisierten Organisationen der Vergangenheit noch nicht vereinnahmt oder entstellt worden. Es hat ihnen schlichtweg an einer eigenständigen Dynamik gefehlt, was es traditionellen Kräften ermöglicht hat, den von ihnen angestrebten Bruch im Keim zu ersticken. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. Doch an den aufgeworfenen Fragen kommt niemand vorbei; sie werden bleiben. Denn das mögliche Neue schreitet tastend voran, durch Vorstöße, die sich erschöpfen und dann abermals einsetzen.
Den Gegensatz zwischen einer auf dauerhafter Delegierung beruhenden Demokratie und der direkten Ausübung von Souveränität haben wir bis heute nicht überwunden. Wie Peter Kropotkin mit Blick auf die Französische Revolution bemerkte, muss die direkte Demokratie immer darum ringen, sich in Emanzipationsbewegungen Bahn zu brechen .
Unser Vorhaben besteht also darin, gemeinsam mit dem Leser den roten – oder schwarz-roten – Faden der gesellschaftlichen Emanzipation zu verfolgen, einer Fähigkeit zur Subversion der bestehenden Welt seitens all derer, die daran interessiert und beteiligt sind. Anders gesagt: den mühsamen und steilen Weg des wilden Sozialismus , der von der Französischen Revolution bis zu Occupy Wall Street führt.
KAPITEL 1
DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION (1789–1795)
SOUVERÄNITÄT VERSUS DELEGATION
Die Ursprünge auf Repräsentation beruhender Organisationsformen reichen bis in vorkapitalistische Gesellschaften und die Staaten der Antike zurück. Später findet man entsprechende Formen in den Städten des europäischen Mittelalters, wo die Produzenten – die in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker – die öffentlichen Angelegenheiten in Versammlungen regelten. Auch in der ersten englischen Revolution im 17. Jahrhundert (1648–1657) bauten die Organisationen der Soldaten auf dem Prinzip der Repräsentation auf. Allerdings war diese Art von Demokratie »nicht der Geltung einer theoretisch formulierten Verfassung zu verdanken« 1, die allen Menschen gleiche Rechte zuerkannt hätte; die politischen Organe wurden von Minderheiten beherrscht, die die wirtschaftliche Macht besaßen, während die Ausgebeuteten vom Prozess der Repräsentation ausgeschlossen blieben.
EIN KORREKTIV DER REINEN DEMOKRATIE
In der Französischen Revolution von 1789 hielt das Bürgertum der mit dem Gottesgnadentum begründeten Souveränität der Monarchie den Gedanken der Volkssouveränität und der formalen Gleichheit der Bürger entgegen – eine Idee, die von nun an die Grundlage politischer Theorien über die repräsentative Macht bildete. Der Verlauf der Revolution, bestimmt vom Bedürfnis des Bürgertums, sich mit den Ausgebeuteten zu vereinen, um die feudalen Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus aus dem Weg zu räumen, hatte allerdings unmittelbar zur Folge, dass die Ausübung der Volkssouveränität zu einem Problem erklärt wurde: »Wenn es auch für die Bourgeoisie der Neuzeit eine Notwendigkeit war, gegen den Absolutismus zu behaupten, daß alle Gewalt vom Volk ausgeht, so konnte sie dennoch nicht zugeben, daß sie vom Volk auch ausgeübt würde. Also mußte ein Korrektiv gefunden werden.« 2Konkret: Die Bourgeoisie, deren Macht als Klasse noch gering war, fürchtete, dass »die unter die Räder der Konkurrenz und der Ausbeutung kommenden Kleinbürger und Arbeiter zu viel Macht über den Gesetzgebungsprozess gewinnen«. 3Das benötigte Korrektiv fand seine vollendete Form im System der parlamentarischen Vertretung. Das Prinzip der dauerhaften Delegierung ermöglichte es, am Gedanken der Volkssouveränität festzuhalten und zugleich die ältere, vom Spätfeudalismus hinterlassene Institution des Parlaments zu nutzen. In »der Theorie ging alle Gewalt vom Volke aus, doch in der Praxis wurde ihm das Recht abgesprochen, sie selber auszuüben: das Volk durfte sie nur ›delegieren‹«. 4So meinte man »einen der großen Nachteile der Demokratie« beheben zu können, von dem Montesquieu als Stimme des liberalen Adels gesprochen hatte, nämlich dass das Volk »ganz und gar unfähig« sei, die eigene Souveränität auszuüben, wie die Revolution sie gefordert hatte. 5Die praktischen Formen dieser Korrektur durch permanente Delegierung waren Gegenstand eines langen und widersprüchlichen Kampfes. Anfangs eingeschränkt nach Einkommen, sozialer Stellung und Geschlecht, wurde das Wahlrecht nur schrittweise auf die Mehrheit der ärmeren Klassen und später auf die Frauen ausgeweitet. Der Kampf für seine Einführung blieb daher ein wichtiges Moment im Denken und politischen Handeln der Ausgebeuteten. Mit der Zunahme von Klassenkämpfen und der Entwicklung des Kapitalismus erwiesen sich das allgemeine Wahlrecht und das repräsentative System allerdings schließlich als unverzichtbar, um den gesellschaftlichen Konsens zu festigen und die politische Macht des Bürgertums zu legitimieren. Es zeigte sich nun, dass eine solche Demokratie »keine Schwäche des Kapitals ist, sondern umgekehrt ein Ausdruck der inneren Kraft des Kapitalismus«. 6
Einige Denker wie Rousseau erkannten zwar, dass die Delegierung von Souveränität deren Negation gleichkam: »Die Souveränität […] kann nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Allgemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten.« 7Im Rückgriff auf den Gedanken der »menschlichen Natur« kamen sie indessen zu dem Schluss, die wahre Demokratie werde niemals existieren, da die Menschen nun einmal unvollkommen seien. Von dieser Auffassung wich Robespierre nicht besonders weit ab, als er schrieb: »Die Demokratie ist ein Zustand, in dem das souveräne Volk […] von sich aus all das macht, wozu es auch in der Lage ist, und durch Delegierte all das, was es nicht selber tun kann.« 8So gelangten die Jakobiner als extreme politische Strömung der neuen führenden Klassen zu einer klaren Ablehnung direkter Demokratie, von Robespierre »die reine Demokratie« genannt. Stattdessen versuchten sie die Mängel des parlamentarisch-repräsentativen Systems mit rechtlichen Mitteln zu beheben, indem sie Garantien und Regeln einführten, die Verfehlungen und Willkür der gewählten Vertreter verhindern sollten. Denn eine Annahme in der Lehre Robespierres lautete, diese würden immer versucht sein, sich gegenüber den Wählern untreu zu verhalten, und es an Integrität fehlen lassen. Die Ausübung von Macht barg somit Gefahren: »Der Mandatsträger neigt grundsätzlich zur Untreue, weil die Wahrnehmung jeglichen Mandats persönliche Vorteile (Stolz, Reichtum oder Ehrgeiz) mit sich bringt, deren Erwerb oder Erhalt auf lange Sicht die anfängliche Integrität selbst der Bestgesinnten beschädigt.« 9Nicht nur war das Volk demnach selbst unfähig zur Ausübung der Macht, es musste auch vor der Untreue seiner Vertreter geschützt werden – durch unabhängige Aufseher, die selbst nicht gewählt wurden, ihm aber seine Rechte sichern und ihm gegen die Mängel seiner Amtsträger zur Seite stehen sollten. Die Idee war nicht neu. Unter anderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen befasste sich auch die griechische Demokratie der Antike mit ihr; sie siedelte »Experten« außerhalb der Politik an und griff dabei auf Sklaven zurück. Auf diese Weise sollte die freien Männern vorbehaltene Macht der Entscheidung von der Sklaven zugewiesenen Macht der Ausführung getrennt werden. 10
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