Also blieb ihnen nur noch eine Möglichkeit; die Beifahrerseite. Zweimal tippte er auf Grigoris Knie. Es geht los.
Er konnte nicht hören, wie die Glock hinter ihm aus der Satteltasche gezogen wurde, aber er wusste, dass sie da war, in der Hand seines Partners.
Da. Der Mann, den sie umbringen sollten, saß hinter dem Steuer, immer noch relativ aufrecht in seinem Sitz. Die Frau war nirgendwo zu sehen, war aber zweifellos in Deckung gegangen.
Pavel drehte die Maschine auf und brachte sich auf eine Höhe mit dem Impala. Der Moment war gekommen, es zu Ende zu bringen.
Das Brüllen der Glock dröhnte Harry fast zeitgleich wie das Geräusch zersplitternden Glases in den Ohren. Er hörte, wie die Kugel an seinem Ohr vorbeisauste und neben seinem Kopf durch das Seitenfenster wieder austrat.
Die Zeit schien stehenzubleiben, als er einen letzten, prüfenden Blick nach rechts warf. Alles, was er sah, war die kalte, schwarze Mündung einer Glock, die ihn anstarrte.
»Jetzt!«
Pavel versuchte die Maschine ruhig zu halten, und fuhr noch näher an den Impala heran, damit sein Partner besser zielen konnte, als plötzlich die Tür der Limousine aufflog und gegen sein linkes Knie krachte.
Der Lenker der Maschine wurde herumgerissen und das Motorrad kam vom Kurs ab, drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Beinahe blind vor Schmerzen versuchte der Ex- Speznas -Söldner wieder die Kontrolle über das Motorrad zu gewinnen, während dieses über zwei Fahrspuren hinweg schlingerte. Er sah den SUV gerade noch rechtzeitig, um zu schreien …
»Alles okay?«, fragte Harry und sah zu Carol hinunter, die noch immer den Türgriff umklammert hielt. Am Rand des Mittelstreifens brachte er den Impala zum Stehen.
Sie nickte und schien von dem, was sich eben ereignet hatte, noch ganz benommen zu sein. Er schnallte sich ab und streckte ihr die Hand entgegen. »Kommen Sie, kommen Sie, wir müssen weiter.«
Der Chevy Tahoe, der das Motorrad der Attentäter gerammt hatte, war am Straßenrand stehengeblieben. Der Verkehr begann sich zurückzustauen. Mit einem Blick zurück, um sicherzugehen, dass Carol ihm folgte, schritt Harry zielgerichtet über den Highway, auf mögliche weitere Gefahren gefasst. Die Colt befand sich in seiner rechten Hand, schussbereit.
Die Fahrerin des Tahoe, eine dickliche Frau mittleren Alters, war bereits aus dem Wagen gestiegen und schluchzte hysterisch in ihr Telefon.
»… die kamen einfach aus dem Nichts. Ich hatte überhaupt keine Zeit, um zu … du lieber Gott, vielleicht sind sie tot.«
»Ma’am«, begann Harry, der um die Vorderseite des Tahoe lief. »Ich muss Sie bitten, aufzulegen.«
Beim Anblick der Pistole, die er fest umklammert hielt, bekam sie große Augen und begann mit der Dame der Notrufleitstelle am anderen Ende zu sprechen. Mit einer geschmeidigen Bewegung riss Harry ihr das Handy aus der Hand und warf es über die Straße.
»Was tun Sie da?«, hörte er Carol fragen, aber er ignorierte sie und konzentrierte sich auf die verängstigte Frau vor ihm. Sie war allein, wie ihm klar wurde, als er die Sitze in dem SUV absuchte.
»Ma’am, ich bin FBI-Agent« fuhr Harry fort und klappte seine Brieftasche auf. Der CIA-Ausweis war weitaus weniger protzig als eine FBI-Plakette, doch das fiel den wenigsten Leuten auf. »Ich brauche Ihren Wagen.«
»Was geht hier vor?«, fragte sie, eine Hand auf ihren Mund gepresst. Sie wich vor ihm zurück und ihre Angst stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wer sind diese Leute?«
»Vertrauen Sie mir einfach, wenn ich Ihnen sage, dass Sie das nicht wissen wollen. Die Schlüssel?«
Sie ließ einen ängstlichen Blick zwischen seinem und Carols Gesicht hin und her huschen. »Sie stecken im Zündschloss.«
»Gut. Sie können mit den Rettungsdiensten mitfahren, wenn diese hier eintreffen. Bis dahin treten Sie bitte zurück.« Er deutete auf Carol. »Und Sie steigen ein.«
»Wo fahren wir hin?«, hörte er sie fragen. Harry zog einen dünnen Metallzylinder aus seiner Jackentasche und schraubte ihn auf das Mündungsgewinde seiner Colt. »Wir haben noch etwas zu erledigen.«
09:02 Uhr Ortszeit
Dan Ryan Expressway
Chicago, Illinois
Zu den Dingen, an die man sich in Amerika am schwersten gewöhnen konnte, gehörte, dass die Polizei hier tatsächlich einen ausreichenden Grund benötigte, um jemanden anzuhalten.
Tarik Abdul Muhammad faltete seine Hände und starrte von dem Rücksitz des SUV aus angestrengt auf den vorbeiziehenden dichten Verkehr hinaus. Um ihnen einen solchen Grund nicht zu geben, hatte er einen örtlichen Fahrer angefordert.
Selbst ein Schwarzer war für diese Aufgabe besser geeignet als die Männer, die er über die amerikanisch-mexikanische Grenze gebracht hatte. Obwohl es sich bei ihnen um erbitterte Kämpfer handelte, die bereit waren, für Allah ihr Leben zu lassen, sahen seine Pakistanis das Fahren von Autos als ultimativen Test ihrer Männlichkeit an. Ein Wettstreit, bei dem alle Mittel erlaubt waren.
In Peschawar mochte dies zu ihrem Vorteil gewesen sein, in einer eher zivilisierten Umgebung wie den Vereinigten Staaten hingegen hätten sie jedoch keine fünf Minuten überlebt.
Amerika . Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und die Erinnerungen strömten auf ihn ein. Dem Land am nächsten gekommen war er bislang in Kuba. Die imperialistische Militärbasis mit Blick auf die Bucht von Guantanamo. Der Blick durch den Maschendrahtzaun.
Er beugte sich nach vorn und tippte dem Schwarzen auf die Schulter. »Wie lange noch, bis wir Dearborn erreichen?«
Sein Englisch hatte er auf diesem trostlosen Felsen in Kuba gelernt. Es war gut, wenn auch nicht fließend.
»Hey Mann, das hängt ganz allein vom Verkehr ab«, antwortete der schwarze Mann. »Sie wollen heute Nachmittag in der Moschee sein, nicht wahr?«
Tarik nickte. »Das wäre ideal.«
»Dann bringe ich Sie dahin, Bruder.«
Bruder? Tarik konzentrierte sich wieder auf den Verkehr draußen vor dem Fenster. Vielleicht …
10:03 Uhr
Der Highway
Virginia
Der Schütze war tot, sein Genick bei der Wucht des Aufpralls gebrochen. Wahrscheinlich hatte er davon nicht einmal etwas gespürt.
Harry erhob sich von der Stelle, wo der Attentäter wie eine kaputte Puppe auf dem Asphalt lag, und wendete sich dessen Partner zu.
Der Fahrer war von der Suzuki katapultiert worden und lag beinahe vier Meter entfernt. Er stöhnte, sein Helm war zur Hälfte abgerissen worden und ließ ein eindeutig slawisches Gesicht darunter erkennen. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies verdreht und stand in einem rechten Winkel von seinem Körper ab.
»Wer hat dich geschickt?«, fragte Harry auf Russisch und ließ sich neben dem Fahrer auf eines seiner Knie sinken.
Der Husten des Mannes war die einzige Antwort. Blut spritzte auf die Straße. Trotz funkelte in seinen Augen. Harry seufzte und sah sich um. Der Verkehr kam zum Erliegen. In wenigen Minuten würde die Polizei eintreffen.
Und auch er war jetzt ein gesuchter Mann. Nach einem kurzen Moment griff er nach unten, übte Druck auf das verletzte Bein des Russen aus und drehte es zur Seite.
»Ich will einen Namen«, flüsterte Harry, seine Lippen nur wenige Zentimeter von dem Ohr des mit dem Gesicht nach unten liegenden Mannes entfernt. »Nur ein Name und der Schmerz wird aufhören.«
Schweiß rann dem Russen übers Gesicht, kleine Tropfen, die in der kalten Winterluft gefroren. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er gab keinen Laut von sich, biss die Zähne zusammen.
»Ein Name, das ist alles. Wer hat dich geschickt, mich umzubringen?«
Immer noch Schweigen. Nicht einmal ein Stöhnen drang über die Lippen des Fahrers. Ein weiterer Moment verging, dann ließ Harry das Bein los und stand auf.
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