Harry warf Carol ein knappes Lächeln zu und fuhr langsam an.
»Wie viel Zeit geben Sie ihnen?«, fragte sie mit einem Blick aus dem Fenster.
»Nicht viel. Der Alarm ist wahrscheinlich schon ausgelöst worden. Wenn wir das Gelände erst einmal hinter uns gelassen haben, befinden wir uns außerhalb ihrer Zuständigkeit, weshalb sie dann die örtlichen Polizeikräfte mobilisieren müssten. Noch eine Verzögerung. Also vielleicht zehn, fünfzehn Minuten.«
Carol drehte sich zu ihm und er sah die Entschlossenheit ihres Vaters in ihren Augen aufblitzen. »Und Sie sind sicher, dass sie sich davon aufhalten lassen werden?«
»Ihren Vater wahrscheinlich nicht«, antwortete Harry leise, »aber jetzt hat Shapiro das Sagen. Und Shapiro hält sich genau an die Vorschriften. Er wird einen Fahndungsaufruf herausgeben und die Verantwortung an andere übergeben.«
Carol schwieg für einen Moment. »Haben Sie einen Plan?«
»Zumindest die Idee für einen Plan. Öffnen Sie das Handschuhfach und holen Sie heraus, was Sie darin finden.«
Sie zögerte, und er konnte spüren, wie sie ihn ansah. Er tippte auf die Bremse und setzte den Blinker, als sie sich dem Highway näherten. Am sichersten würden sie sein, wenn sie im Verkehr Richtung Westen untertauchen konnten. Eine Verfolgungsjagd gewann man nur im Film. Und dies war ganz gewiss nicht Hollywood.
Er hörte, wie sie das Handschuhfach öffnete, und warf einen kurzen Blick auf Carol, die eine Halbautomatik in einem Holster herausholte.
»Das ist eine Kahr PM-45«, erläuterte er ohne Umschweife. »Eine halbautomatische Schlagbolzenpistole. Verschießt .45 ACP-Munition, fünf Schuss. Wissen Sie, wie man so was benutzt?«
»Ja«, antwortete sie mit einer Spur von Verwirrung in der Stimme. »Mit zwanzig habe ich fünf Monate auf der Thunder Ranch verbracht.«
Das waren gute Nachrichten, dachte er, während er in den Rückspiegel sah und die Information verarbeitete.
Die Thunder Ranch gehörte zu den besten Schulen für Waffentraining im Land und Clint Smiths Ausbilder waren alles andere als Bürohengste. Sie konzentrierten sich auf die reale Welt. Trotzdem …
Soweit er es beurteilen konnte, war ihnen noch niemand gefolgt. Er erspähte eine Lücke, wechselte die Spur und beschleunigte, bis ein Sattelschlepper sie verbarg. »Schon mal jemanden umgebracht?«, fragte er rundheraus und sah sie an, um ihre Reaktion darauf zu studieren.
Doch diese blieb aus. Carol sah einfach nur auf die Pistole in ihren Händen hinunter und schüttelte den Kopf.
»Dann beten Sie zu Gott, dass Sie es niemals tun müssen.«
08:45 Uhr
Annapolis, Maryland
Hundert Meter vom Jachthafen von Annapolis entfernt schien die Meeresluft gleich merklich kühler geworden zu sein. Ein Frösteln lief durch Sergei Korsakovs Körper. Das konnte nicht sein.
»Nein«, rief er grob in das verschlüsselte Satellitentelefon, das er sich an sein Ohr presste. »Das ist unmöglich.«
»Glauben Sie mir, so lautet der Bericht auf meinem Tisch. Sie haben ihn verfehlt.«
»Die lügen«, spie Korsakov aus und schob noch ein paar russische Flüche hinterher. Erneut schloss er die Augen und stellte sich noch einmal die Szene vor, wie er sie durch die Windschutzscheibe des Durango verfolgt hatte. Die feurige Explosion, das Metall, das wie Schrapnelle durch die winterliche Luft peitschte. Diese Operation war seit Wochen geplant worden, alles war bis ins kleinste Detail vorbereitet gewesen. Und außerdem hatte er zugesehen …
»Das würden sie nicht tun, Sergei«, antwortete die Stimme gelassen und selbstsicher. »Nicht mir gegenüber. Und das wissen Sie.«
Da hatte der Mann recht. Der ehemalige Speznas -Söldner fluchte noch einmal leise in sich hinein und blickte vorsichtig die Straße entlang. »Wieso rufen Sie mich an?«
»Ich denke, das wissen Sie.«
Und auch das stimmte. Korsakov räusperte sich. »Ich bin nicht sicher, ob Sie die Tragweite des Problems begreifen. Wenn das, was Sie mir erzählen, wahr ist – dann ist unser Freund verschwunden. Und ich werde keine weitere Chance mehr bekommen, an ihn heranzukommen. Nicht, wenn das Bureau nach mir sucht. Meine Männer und ich müssen sofort das Land verlassen.«
»Sie suchen nicht nach Ihnen, Sergei«, antwortete die Stimme. »Und wenn Sie wollen, dass das so bleibt, sollten Sie mir jetzt sehr genau zuhören …«
Zorn flackerte in den dunklen Augen des Russen auf. Er wartete einen kurzen Moment lang, spürte, wie der Wind an seinem Mantelsaum zerrte. Dann leckte er sich über die trockenen Lippen und sagte: »Reden Sie weiter.«
08:50 Uhr
NCS-Einsatzzentrale
Langley, Virginia
»Würde mir irgendjemand mal erklären, was genau hier vor sich geht?«, bellte Kranemeyer, der wie eine Sturmböe in die Einsatzzentrale fegte. Für einen Mann mit nur einem Bein bot er noch immer einen recht eindrucksvollen Auftritt.
»Wir haben die Meldung vor fünf Minuten an die örtlichen Polizeikräfte herausgegeben«, antwortete Carter, der kurz von seinem Computer aufsah. »Laut den Berichten der Perimetersicherheit hat Nichols vor dreizehn Minuten den äußeren Checkpoint passiert.«
»Und Carol war bei ihm?«, erkundigte sich Kranemeyer und sein Blick verfinsterte sich dabei.
»Ja.«
Der DCS fluchte. »Wovon sollen wir ausgehen – dass er sie entführt hat?«
»Wir haben drei Wachmänner auf der Krankenstation liegen. Sie wurden mit einem Taser überwältigt und gefesselt. Kameraaufnahmen aus der Tiefgarage zeigen, wie sie mit ihm zusammen in ein Auto stieg, aber wer weiß, vielleicht hat er sie mit gezogener Waffe gezwungen.«
»Was ist mit ihrem Handy?«, fragte Kranemeyer. »Es muss eine Möglichkeit geben, sie aufzuspüren.«
»Ihr Handy ging offline, kurz nachdem sie das Gelände verließen«, erwiderte Daniel Lasker, der weiter konzentriert auf seine Bildschirme starrte. »Ich habe einen Hinweis auf ihren letzten bekannten Aufenthaltsort. Fünfhundert Meter außerhalb des Geländes. Unsere einzige Spur ist der Wagen. Nichols fuhr seinen Cutlass.«
Der DCS quittierte die Information mit einem weiteren Fluch und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut. Er wird den Wagen bei der erstbesten Gelegenheit loswerden. Das ist Standardvorgehensweise.«
In diesem Moment begann das Telefon in Kranemeyers Tasche zu klingeln. Laskers Gehirn konnte den Klingelton noch als »Wanted Dead or Alive« von Jon Bon Jovi erkennen, bevor der DCS auf eigentümliche Art rot anlief.
»Das ist er«, zischte Kranemeyer kaum hörbar und deutete mit seinem langen und dicken Zeigefinger in Carters Richtung. »Hängen Sie sich dran.«
Es läutete viermal, dann nahm er den Anruf entgegen. »Kranemeyer hier.«
»Freefall«, meldete sich eine bekannte Stimme, gefolgt von einem lauten Knacken. Dann starrte der DCS auf sein Telefon hinunter. Die Leitung war tot.
»Haben wir was?«, fragte er mit einem scharfen Blick hinüber zu Carter.
»Nein«, lautete die Antwort des Analysten. »Dafür dauerte es nicht lange genug. Was bedeutet Freefall ?«
»Das ist ein Notfall-Codewort der Agency«, erwiderte Kranemeyer, der nun seltsam blass wirkte.
Danny Lasker tippte etwas in seine Konsole, dann sah er zu seinem Boss auf. »Wieso habe ich noch nie davon gehört?«, fragte er sichtlich verwirrt.
»Das war vor Ihrer Zeit«, erwiderte Kranemeyer, der sich ein grimmiges Lächeln abrang. »Es stammt aus Tagen des alten Directorate of Operations. Ich war damals noch bei der Delta, auf einer Geheimmission der Agency im Westjordanland. David Lay leitete die Operation als Station Chief von Tel Aviv und Nichols war die Agency-Ausgabe der Bodentruppen vor Ort. Er war damals fast noch ein Kind, sein zweites Jahr im Einsatz.«
»Was will er uns dann damit sagen?«, warf ein völlig ratloser Ron Carter ein.
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