»Hallo Herr Hahnwald«, grüßte sie den ewig mürrischen Mann aus dem Erdgeschoss, der ihr ein Immer langsam junge Frau hinterhergrummelte. Aber für langsam hatte sie heute keine Zeit. Sie zerrte ihr grünes Mountainbike aus dem Keller, schleppte es die Treppe hoch und schwang sich in den Sattel. Dann gab sie Gas.
Bald hatte sie die Wohnstraßen des Vorortes hinter sich gelassen und fuhr über die Feldwege, vorbei an goldgelben Weizenfeldern und mannshohen Maispflanzen. Schon kam der Wald in Sicht, der die Grenze zum Anwesen der Funkelfelds markierte. Sie radelte die Allee aus uralten Kastanienbäumen entlang und dann durch das große gusseiserne Tor, das immer offen stand, seit die Scharniere durchgerostet waren.
Links von ihr lag Papilopulus’ Weide mit seinem Offenstall. Den hatte Gesine von Funkelfeld damals gebaut, als ihre Schwester nicht mehr reiten konnte. So hatte das Pferd immer genug Auslauf und konnte auf der Weide grasen, wann es wollte. Das war allerdings schon etliche Jahre her und auch hier müsste das Dach an manchen Stellen geflickt werden. Aber das konnte Malu bestimmt reparieren. So schwer konnte das ja nicht sein. Wofür gab es schließlich das Internet?!
Sie lehnte ihr Fahrrad an den Zaun und ging zum Stall hinüber. »Papilopulus«, rief sie. »He, Papi, wo bist du?«
Malu runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Normalerweise kam Papilopulus sofort, wenn Malu ihn rief. Er konnte ja nur noch hinter dem Offenstall sein, denn die Weide konnte sie von hier aus überblicken. Schnell schlüpfte sie durch die Zaunbretter, um nachzusehen. Nichts! Papilopulus war verschwunden! Ihr Magen krampfte sich zusammen. Das konnte doch nicht sein. Das durfte nicht sein! Gesine! Gesine wusste bestimmt, was los war. Malu drehte sich um und wollte gerade über den Zaun klettern und zu ihrer Wohnung rennen, da hörte sie Hufgeklapper aus der Stallgasse. Und diesmal bildete sie sich das nicht ein. Kurz darauf folgte ein leises Wiehern. Papilopulus!
Malu schwang sich über den Zaun und rannte zum Stall. Sie war noch nicht ganz an der Tür, da konnte sie schon Stimmen hören.
»Du hast mir gesagt, wir fahren auf ein Gestüt. Und alles, was es hier gibt, ist das da.«
»Ein Pferd ist ein Pferd«, antwortete eine etwas genervte Männerstimme. »Lenka, ich hab jetzt wirklich anderes zu tun.«
Gerade wollte Malu in die Stallgasse stürmen, als sie in einen großen, braungebrannten Mann mit ordentlich gestutztem Vollbart hineinlief.
»Hoppla, wer bist du denn?«, rief der Mann überrascht.
Messerscharf kombinierte Malu, dass dies vermutlich Arno von Funkelfeld war. Bevor sie etwas sagen konnte, redete der Mann gleich weiter. »Du musst Malu sein. Tante Gesine hat erzählt, dass du dich um das Pferd meiner Mutter kümmerst. Meine Tochter Lenka reitet auch. Ihr werdet euch bestimmt prima verstehen.« Mit diesen Worten schob der Mann sie in die Stallgasse und eilte über den Schlosshof davon. So hatte Malu sich das Gespräch mit Arno von Funkelfeld aber nicht vorgestellt, ganz und gar nicht. Auch eine Tochter war in ihrem Plan nicht vorgekommen und erst recht keine Tochter, die ritt!
Ein Blick auf Lenka genügte und Malu war klar, dass sie sich auf keinen Fall verstehen würden! Papilopulus stand im Sattelraum, in dem die Pferde früher geputzt und gezäumt worden waren. Er drehte den Kopf ein wenig, jedenfalls so weit es der kurze Strick zuließ, mit dem er angebunden war, und schnaubte freudig, als er Malu erkannte.
Ein großes, schlankes Mädchen stand mit verschränkten Armen neben ihm und musterte Malu abschätzend. Sie hatte die gleichen langen blonden Haare wie Lea, eine spitze Nase und steckte in nagelneuen weißen Reithosen. Auf ihren glänzenden Reitstiefeln war nicht ein einziges Staubkörnchen zu sehen. (Rein physikalisch eigentlich unmöglich!)
Auch Lenka schien sich jetzt ein Bild von ihrem Gegenüber gemacht zu haben. Sie zog leicht die Augenbrauen hoch. »Du reitest auch?«, fragte sie, wobei sie das Du so komisch betonte, als wäre das die abwegigste Vorstellung überhaupt.
»Ja, klar«, sagte Malu. Obwohl das ein bisschen hoch gegriffen war, denn genau genommen bestand ihr Reiten darin, auf Papilopulus ein paar Runden über die Wiese oder den Schlossplatz zu drehen, ganz ohne Sattel und Trense und das auch noch im Schritt.
»Ich reite schon seit Jahren«, erwiderte Lenka. »Allerdings auf richtigen Pferden.« Sie bedachte Papilopulus mit einem abfälligen Blick. Malu wünschte sich, dass der Wallach mal kurz und kräftig mit den Hinterbeinen ausschlug – aber dafür war er natürlich viel zu lieb.
»Hier gibt es ja nicht mal einen richtigen Sattel«, stellte Lenka pikiert fest und deutete auf die niedrige Tür am Ende des Raums, durch die es in die Sattelkammer ging. »Hast du da mal reingeguckt?« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Der da drin ist völlig verdreckt!«
Malu ging jetzt schnell zu Papilopulus hinüber und strich ihm über die weichen Nüstern. »Na, mein Kleiner«, flüsterte sie, sodass Lenka es nicht hören konnte. Der große Pferdekopf beugte sich zu ihr herunter und schnüffelte an ihrer Hosentasche. Unauffällig kramte Malu ein Leckerchen raus und hielt es dem Wallach hin.
»Den Sattel benutzt auch seit Jahren keiner mehr und die Trense auch nicht. Ist wahrscheinlich alles ziemlich eingestaubt.« Zum Glück, dachte Malu. So ein Sattel war viel zu schwer für Papilopulus’ alten Rücken. Der Wallach wurde langsam nervös und scharrte mit den Hufen. Er war es nicht gewohnt, so lange angebunden zu sein. Malu streichelte dem Pferd beruhigend über den Hals.
»Tja«, machte Lenka schnippisch und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Und das ist leider nicht das einzige, was hier eingestaubt ist.« Sie seufzte. »So kann ich jedenfalls nicht reiten.«
Malu fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. »Soll ich Papilopulus dann wieder auf die Weide bringen?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.
»Was für ein bescheuerter Name. Plapimonuwas? Wer hat sich den denn ausgedacht?«
Malu hatte schon den Knoten gelöst und nahm den Strick in die Hand.
»Lass das«, fuhr das blonde Mädchen sie an. »Das ist nicht dein Pferd. Ich bestimme, wann er wieder auf die Weide darf! Und wenn ich will, dass der hier stehen bleibt, dann bleibt er hier stehen!« Damit drehte sie sich um und stapfte die Stallgasse entlang. »Irgendwo in dieser Ruine wird es ja wohl noch einen benutzbaren Sattel geben. Ich werde nicht sechs Wochen in dieser Einöde ohne Reiten zubringen!«
»Du darfst ihm sowieso keinen Sattel auflegen. Papilopulus ist doch schon alt«, zischte Malu durch zusammengebissene Zähne. Was für eine eingebildete Ziege! Hoffentlich sprach Gesine mit ihrem Neffen, bevor diese Lenka dazwischenfunken konnte.
»Das werden wir ja sehen.« Lenka gab einer der alten Holztüren, die von der Stallgasse abgingen, einen Schubs. Quietschend schwang sie auf und eine Staubwolke rieselte auf das Mädchen herab. Das machte Lenka nur noch wütender und sie stieß eine Tür nach der anderen auf. Aber Malu wusste, was sie finden würde. Nichts außer Dreck, Staub und alten Kisten. Vielleicht noch ein paar Mäuseköttel – und wenn Malu ganz viel Glück hatte sogar ein paar lebende Mäuse, die über ihre geleckten Reitstiefel liefen.
Lenka war fast am Ende der Stallgasse angekommen und stand jetzt gefährlich nahe an der morschen Bodenplatte, unter der sich die alte Jauchegrube befand. Malu hätte sie vielleicht sogar gewarnt, wenn sie sich nicht in diesem Moment umgedreht und gerufen hätte: »Hier gibt es ja sicher eine Putzfrau, dann wird die eben den Sattel saubermachen.« Malu schnaubte, so weit kam das noch, dass ihre Mutter dieser blöden ... KRACH! Die Holzbretter unter Lenka hatten nachgegeben, das Mädchen ruderte wild mit den Armen und rutschte dann rücklings in die Grube. »Iiiiihhh!!! Papaaaaaaa!« Die Schreie hallten durch die Stallgasse.
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