Die dicke Holztür schwang schwerfällig auf und gab dabei ein unwilliges Quietschen von sich. Malu trat andächtig in die große Halle und sah sich – wie jedes Mal – bewundernd um. Das Sonnenlicht fiel gedämpft durch die hohen Fenster auf den Fliesenboden, der wie ein überdimensionales Schachbrett wirkte. Die Decke über ihr wölbte sich bis ins dritte Stockwerk und vor ihr schwang sich eine breite Holztreppe mit einem verschnörkelten Geländer in die Höhe. Riesige Ölgemälde in breiten goldenen Rahmen bedeckten die Wände. Die meisten zeigten Landschaften oder Reitgesellschaften, nur eines stellte einen jungen Mann mit Spitzbart in Lebensgröße dar. Baron von Funkelfeld 1897 – 1956, las Malu auf dem kleinen goldenen Schildchen, das unten auf dem Rahmen angebracht war. Das musste der Vater von Gesine und Sybill sein.
Mit einem lauten KRACH fiel die Holztür hinter ihr ins Schloss. Erschrocken drehte Malu sich um, aber sie war allein. Eine gespenstische Stille erfüllte die Halle, als ob alles Lebendige ausgeschlossen war.
Malus Blick blieb auf dem Boden vor der Treppe hängen, aber sie sah nichts, was daran erinnerte, dass Sybill von Funkelfeld gestern hier hinuntergestürzt war. Trotzdem machte sie einen weiten Bogen um die Stelle, wo sie vermutlich gelegen hatte, und dann einen großen Schritt auf die unterste Treppenstufe, als sie sich auf den Weg in die Bibliothek machte.
Die Treppenstufen knarrten bei jedem Schritt und Malu blieb immer wieder stehen, um zu lauschen. Auch wenn sie eben noch über den Schatten am Fenster gelacht hatte, war sie sich plötzlich doch nicht mehr so sicher, ob sie sich das nur eingebildet hatte. Vielleicht gab es doch Gespenster und Sybill geisterte jetzt durchs Schloss? Sie musste an Lea denken, die sich sicher kaputtgelacht hätte, wenn sie Malu jetzt so hätte sehen können. Und recht hätte sie. Gespenster, also wirklich!
Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt und Malu stieß sie vorsichtig auf. Still und unversehrt lag der Raum vor ihr. Das Einzige, was sich bewegte, waren die unzähligen Staubpartikel, die im Sonnenlicht tanzten, das durch das hohe Fenster fiel. Deckenhohe Holzregale zogen sich rundherum an den Wänden entlang und in der Mitte teilte eine breite Regalwand den Raum. Zwei niedrige Sessel mit einem Tischchen daneben luden zum Lesen ein, aber es gab wohl niemanden mehr, der die Einladung annahm.
Um an die obersten Bücher in den Regalen zu kommen, gab es eine kleine, fahrbare Leiter, die Malu gerne benutzt hatte, wenn sie mit ihrer Mutter hier gewesen war, um die Bücher abzustauben. Wenn man sich kräftig an einer Wand abstieß, konnte man damit einmal quer durch den Raum gleiten.
Aber jetzt ließ Malu die Leiter links liegen und ging zu dem kleinen Stehpult am Fenster. Es war nicht leer wie sonst, ein kleiner Holzkasten mit geöffnetem Deckel stand darauf. Papiere quollen daraus hervor. Als Malu sie näher anschauen wollte, entdeckte sie die zierliche Lesebrille, die obenauf lag. Die Bügel waren aufgeklappt, so als ob sie nur mal eben jemand zur Seite gelegt hätte ... Malu schluckte und sah sich hastig um. War jemand hier gewesen? Oder noch schlimmer: War hier immer noch jemand? Sie lauschte angespannt. Aber es war kein keuchender Atem zu hören und auch kein Gerassel. Nein, sie schüttelte den Kopf. Viel wahrscheinlicher war ... Sie nahm die Brille hoch und sah sie sich genauer an. Ja, das war die Brille von Sybill von Funkelfeld. Sie musste also gestern in der Bibliothek gewesen sein. Vielleicht hatte sie etwas gesucht? Aber warum hatte sie dann ihre Brille nicht wieder mitgenommen, als sie gegangen war? Und sie hatte die Papiere einfach so liegen lassen. Das passte gar nicht zu der ordentlichen alten Dame, bei der ihre Mutter immer alles supergründlich bis in die kleinste Ecke putzen musste.
Nein, bestimmt war sie durch irgendetwas gestört worden, hatte ihre Brille abgelegt, um nachzusehen ... Malu legte die Brille aufs Stehpult zurück, ging zur Tür und trat ins Treppenhaus. Und dann? Hatte Sybill von unten ein Geräusch gehört? Oder jemanden gesehen? Dann wollte sie vielleicht die Treppe heruntergehen und ist gestolpert. Oder war hier oben jemand gewesen und hatte sie erschreckt? Ganz klar, das war der rote Junge aus den Büschen. Wie praktisch! Tatatata! Malu musste grinsen. Die Superdetektivin Malu Baumgarten hatte das Rätsel gelöst. Sie las wohl eindeutig zu viele Krimis!
Malu schüttelte den Kopf und ging zurück zum Stehpult. Die Brille faltete sie vorsichtig zusammen und legte sie an die Seite. Dann warf sie neugierig einen Blick auf die Zettel in der Schatulle. Ja, natürlich schnüffelte man nicht in den Sachen von anderen Leuten herum. Aber das hier war ja irgendwie ein Sonderfall. Sie nahm sich das oberste Papier und versuchte die spitze Handschrift zu entziffern.
Hosenmoppel und Losenpoppel
Gingen zum Dosenzottel,
Um nach dem Riesentrottel
Einen Mottenkottel zu werfen.
Häh?! Was sollte das denn? Malu griff nach dem nächsten Zettel.
Am Feldesrand der schwarze Baum,
Der stand da nur in meinem Traum.
Gesichter guckten draus hervor,
Es war kalt hier und ich fror.
Gestrandet hier im Niemandsland,
Nur der Körper lag im kalten Sand.
Die Seele war schon fortgegangen,
War nicht länger hier gefangen.
Oh, wow! Ob das aus der Feder des Barons stammte oder gab es etwa noch mehr Dichter in der Familie Funkelfeld? Hatte Sybill von Funkelfeld versucht, ihrem Vater nachzueifern? Und dann ihre Gedichte hier versteckt? (Was vielleicht auch besser so war.)
Das nächste Gedicht war wieder lustiger.
Ein Riesenkakadu
Sagte zur bunten Kuh:
Hier haste den Schuh.
Die wollte aber vier,
Da schrie das Tier
Nicht mit mir!
Und so ging es weiter. Unzählige Verse lagen in dem Kasten, manche fröhlich und verrückt, viele auch etwas unheimlich. Aber das alles gab keinerlei Hinweis darauf, ob Sybill von Funkelfeld von jemandem gestört worden war. Vielleicht war sie auch einfach ein bisschen wunderlich im Alter geworden und hatte ihre Brille hier vergessen, dachte Malu und seufzte. Also doch kein großes Rätsel.
Sie räumte die Zettel in die Schatulle, legte die Brille oben drauf und schloss den Deckel behutsam. Das Kästchen würde sie für Gesine mitnehmen, vielleicht sagten ihr die merkwürdigen Gedichte ja etwas und sie wollte sie vielleicht gerne als Andenken an ihre Schwester haben.
Die Familienchronik hatte Malu schnell gefunden. Der rote Lederband stand direkt im Regalbrett hinter dem Stehpult, so wie Gesine gesagt hatte. Sie stellte das Kästchen darauf und machte sich dann auf den Rückweg. Der Wälzer war verdammt schwer und sie musste ihn unten in der Halle kurz ablegen, um eine Pause zu machen und ihre Arme auszuschütteln.
Als sie die schwere Holztür aufschob, traf die Hitze sie wie ein Schlag. Es war ihr gar nicht aufgefallen, wie kühl es hinter den dicken Mauern gewesen war. Sie legte ihre schwere Fracht vorsichtig auf der obersten Stufe ab und zog die Tür sorgsam hinter sich zu. In diesem Moment fuhr ein silberner Audi auf den Schlossplatz und ein kleiner, dicker Mann mit schwarzem kurzgelocktem Haar stieg aus. Er holte einen Aktenkoffer vom Rücksitz und sah sich suchend um. Als er Malu entdeckte, winkte er ihr kurz zu und verschwand dann in der Wohnung von Gesine von Funkelfeld. Das war wohl der Anwalt, von dem ihre Mutter gesprochen hatte.
Malu schnappte sich wieder das Buch und die Schatulle und folgte dem Mann langsam ins Haus. Frau von Funkelfeld und ihre Mutter standen noch mit dem Anwalt im Flur, als Malu durch die Haustür trat. Sie hörte seine Beileidswünsche und dann bat die alte Dame ihn ins Wohnzimmer.
Malus Mutter wollte sich gerade mit ihrer Tochter in die Küche zurückziehen, da hielt Gesine sie zurück. »Rebekka, komm doch bitte mit. Ich fühle mich noch etwas schwach.« Dann lächelte sie Malu zu. »Du kannst auch gerne dabei sein, Malu. Es ist kein großes Geheimnis, was Herr Mauswitz mir zu sagen hat.« Sie hakte sich bei dem Mann unter und ging mit ihm vor. »Herr Mauswitz ist schon seit Jahrzehnten der Anwalt der Funkelfelds, wie schon vor ihm sein Vater, nicht wahr, mein Lieber? Auch wenn jetzt nicht mehr viele von uns übrig sind.«
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