1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 Nimue zweifelte plötzlich an ihrem Wunsch. Wollte sie wirklich bei ihrer Cousine auf der Zauberinsel leben? Oder war es nur, weil es Cara tat und ihr die Geschichten so imponierten? Steckte dahinter womöglich eine versteckte Eifersucht ihrer Cousine gegenüber? Sie wusste es nicht und fragte verzweifelt: »Oma, was soll ich tun?«
»Geh an Plätze der Einsamkeit, an denen du dich wohlfühlst und denke über deinen großen Wunsch nach. Geh in dich und versuche herauszufinden, ob dieser oder ein anderer Wunsch es sein soll, und werde dir über dessen Tragweite bewusst.« Die großen verunsicherten Augen von Nimue machten Oona Sorgen und sie fügte hinzu: »Keine Angst, meine Kleine, du wirst dein wahres Ich finden. Das Erwachsenwerden kann einer jeden Elfe Angst machen. Das muss es aber nicht, denn meistens sieht alles viel schlimmer aus, als es in der Wahrheit ist.«
»Aber was passiert, wenn ich mir etwas wünsche, das für andere Folgen hat, die ich nicht auf Anhieb erkennen kann? Folgen für mich und andere hat es doch in jedem Fall, nicht wahr?«
»Solange keine bösen Absichten dahinterstecken und du niemanden willentlich verletzt, sollen die Auswirkungen kein hinderlicher Grund sein.« Oona blickte Nimue tief in die Augen. Dabei strich sie ihr sanft über die Wange. Gleich darauf wechselte Oona das Thema: »In ein paar Tagen ist hier Erntezeit. Dann werden wir ein großes Mahl für dich und deine Gäste vorbereiten. Eines kann ich dir schon verraten: Deine Lieblingsnachspeise, süßer Gemüsebrei, ist auch dabei.« Sie lächelte ihre Enkelin liebevoll an.
»Kommt Katar wirklich nur wegen mir?«, fragte Nimue nun freudestrahlend.
»Ja, das tut er.«
»Wegen etwas Großem, das er oder wer anderes mit mir vorhat oder mir schenkt, nicht wahr?«
Oona nickte.
»Was ist etwas Großes, Oma?«
»Du bist des Königs Lieblingsenkelin und allein das ist schon etwas Großes. Zudem bist du etwas ganz Besonderes, meine kleine Rao’ra. Deine Aufgewecktheit und Lebensfreude, dein ausgeprägter Sinn für Wahrheit, deine Liebe zur Natur und den Tieren, deine Offenheit und fröhliche Energie, dein Sinn für Gleichberechtigung und Gleichheit unter allen, deine Treue zu deinen Lieben, deine Integrität und dein großer Glaube an all das, was wir besitzen, all dies und noch vieles mehr machen dich einzigartig.«
Nimue war verblüfft über das soeben Gesagte. »Ist nicht jeder so, Oma?«
Oona lachte. »Nein, mein Kind, nicht jeder kann diese Wesensmerkmale sein Eigen nennen. Siehst du diese Tomaten hier?« Oona zeigte auf einen Strauch voller roter Paradeiser.
Nimue nickte.
»Sie sind alle vom gleichen Stamm, aber keine gleicht der anderen.«
Nimue nickte erneut. Sie hatte verstanden. Auch wenn man von derselben Elfenrasse abstammt, jeder ist einzigartig und hat unterschiedliche Wesenseigenschaften, und manche besitzen die gleichen Anlagen, nutzen sie aber unterschiedlich. Da entdeckte sie zwei Tomaten, die an einem Zweig nebeneinander hingen. Sie sahen beinahe identisch aus, dennoch hatte die eine einen kleinen grünen Fleck. Nimue grinste.
»Darf ich bei der Ernte dabei sein?«
»Wenn du willst«, erwiderte Oona mit Freude, »natürlich.«
Stunden später saß Nimue in ihrem Zimmer und grübelte über die Worte ihrer Großmutter nach. Sie war ungeduldig und wollte sobald wie möglich mit ihrer inneren Stimme sprechen, um ihren wahren Wunsch zu erfahren. Doch wie sollte sie das anstellen? Da dachte sie an ihren Lieblingsplatz im Wald. Schlagartig sprang sie auf und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Über den Arkadengang und die darauffolgende Eingangshalle lief sie in den Schlosshof hinaus. Kurz darauf passierte sie die Pferdeställe und einige Hundehäuser und verließ den Hof in Richtung Wald. In diesem hatte sie ein kleines Versteck, eine kleine Höhle im Baumstamm einer prächtigen Eiche. Klein war sie nur derart, dass im Verhältnis zur Gesamthöhe des Baumstammes von drei Metern eine circa zwei Meter hohe Aushöhlung geringer war.
Dieser Ort war ihr Rückzugspunkt, wann immer sie Streit mit ihren Geschwistern hatte oder andere Sorgen sie plagten. Niemand kannte dieses Versteck, außer einige Waldbewohner und natürlich der Baum selbst. Sie nannte ihn Aaro, von ihrem Großvater Aar abgeleitet, denn dieser Name gab ihr das Gefühl von Stärke. Beide hatten für Nimue alte Wurzeln, einen großen Stammbaum und stets kraftvolle und weise Worte. Dem Baum war es egal, wie sie ihn nannte. Für ihn zählte ausschließlich ihre gute Freundschaft. In Wirklichkeit jedoch war sein Name Amur und da nahm er einmal schmunzelnd an: »Aaro ähnelt Amur sogar irgendwie. Hm, so ein bisschen.«
Kurz bevor Nimue ihren Freund sehen konnte, rief sie laut: »Hallo, Aaro.«
»Hallo, Nimue«, hallte es im Wald wider.
Nur noch ein paar Schritte und schon stand sie vor ihm. Sie holte tief Luft, als er fragte: »Wie geht es dir?«
»Eigentlich gut.«
»Was heißt eigentlich?«
»In zehn Tagen habe ich doch Geburtstag. Bis dahin soll ich mir über meinen Wunsch im Klaren sein.« Sie zuckte mit ihren Schultern. »Aber wie soll das gehen?«
Nimue runzelte ihre Stirn derart tief, dass Aaro lachte.
Dann fiel ihr Katar ein und ihre Gesichtszüge erhellten sich. Mit dem Feuer der Vorfreude sprudelte es aus ihr heraus: »Hast du gewusst, dass Katar bald zu uns kommt?«
»Die Vögel haben mir davon berichtet. Das ist eine große Ehre, Nimue. Katar war noch niemals hier bei uns im Reich Shenja.«
»Ich weiß, Aaro. Ich freue mich sehr darüber. Aber warum machen alle so ein Tamtam daraus?«
»Was meinst du mit Tam Tam?«
»Meine Schwestern behaupten, dass Katar nur deshalb kommt, weil mein Urgroßvater etwas Großes mit mir vorhat. Noch dazu hat mich Oma auf meinen Wunsch angesprochen. Jede Elfe darf doch zu ihrem 130sten Geburtstag einen großen Wunsch aussprechen.« Nimue zog ihre linke Augenbraue fragend hoch.
»Klaro, und was wünschst du dir?«
»Eigentlich wollte ich …«, stotterte Nimue, »eigentlich, du weißt doch, Clara und die Zauberinsel, hm, aber jetzt …«
Aaro lachte, sodass sich seine Äste wild umherbewegten. »So, so, was nun?«
»Ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Oma sagt, ich muss erst mit meiner inneren Stimme sprechen, um dann herauszufinden, was ich wirklich will. Keine Ahnung, was mir meine innere Stimme sagt.«
»Ach so, die innere Stimme«, erwiderte der Eichenbaum mit ruhigen, langschwingenden Tönen.
»Kennst du die innere Stimme?«, platzte es aus Nimue heraus, denn sie hatte das Gefühl, dass seine letzten Worte darauf deuteten.
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