Elisabeth Dauthendey
Märchen, Geschichten und Gedichte
Saga
Die Märchenwiese Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1918, 2020 Elisabeth Dauthendey und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726614626
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Auf einer alten verfallenen Burg lebten einst zwei sehr verschiedene Brüder. Einer hieß Heute, der andre hieß Morgen.
Junker Morgen war ein sehr langweiliger Geselle und hatte die schlechte Gewohnheit, alles zu verschieben, so daß er zu nichts kam.
Funker heute dagegen war rasch in seinen Handlungen, frisch und munter, und nur manchmal etwas zu wild und drauflos.
Ihre Eltern waren tot und hatten ihnen keine Güter weiter hinterlassen als das alte baufällige Schloß. Damit konnten sie nun nicht viel anfangen. Und da sie jung waren und gern glücklich und in freuden gelebt hätten, beschlossen sie, in die große weite Welt zu ziehen und ihr Glück zu suchen. Und da es zu jener Zeit noch alle guten Geister gab, die den Menschen, wenn sie es richtig anfaßten, gern zum Glückfinden halfen, wollten sie ihren Weg dahin nehmen, wo von alters her die guten Geister am liebsten wohnten, und das ist der tiefe, dunkle, grüne Wald. Auch die bösen Geister treiben dort ihr Wesen. Aber mit denen wollten sie schon fertig werden, denn sie waren jung und stark und hatten also guten Mut.
Beide zugleich aber wollten sie die alte Burg nicht verlassen, denn wenn sie auch alt und verfallen war, liebten sie doch dieses Plätzchen auf Erden, wo sie Kinder gewesen und solange mit ihren guten Eltern trotz Armut und Sorgen glücklich und fröhlich gewesen waren.
„Geh du zuerst,“ sagte Junker heute zu seinem Bruder, du bist der Jüngste, und ich habe es dem Vater auf dem Sterbebette versprochen, dich zuerst dein Glück versuchen zu lassen.“
So zog denn Funker Morgen an einem hellen Sommertage hinaus in den geheimnisvollen Wald, der viele Tagereisen lang sich in die Welt hinaus erstreckte. Ex war so schön im Walde. Still und schattig. Und die Erde so warm und voller Blumen. Die Büsche und Bäume hingen voll von Früchten und Beeren, und im grünen, weichen Moose ruhte sich’s behaglich, und der murmelnde Quell gab schönes kühles Wasser. Das gefiel dem Funker sehr gut, und er bummelte vergnügt viele, viele Tage im warmen sommerlichen Walde umher.
Ein kleines goldbraunes Vöglein flog immer mit ihm, es setzte sich auf einen Ast neben ihn und zwitscherte leise: „Glück – Glück“.
Funker Morgen lachte und sagte: „Glück – ja, das will ich mir schon suchen; aber morgen ist auch noch Zeit, es ist zu schön hier.“ Und er ass von den saftigen früchten und frank aus dem klaren Quell, schlief auf dem weichen Mooslager und freute sich an den vielen bunten Blumen, von denen jede ihm ein andres neues Geschichtchen zu erzählen wußte.
So ging er immer tiefer in den Wald, viele, viele lange Tage. Das Vöglein sang immer lauter: „Glück – Glück,“ aber der Funker antwortete immer wieder: „Morgen, morgen,“ und vergass ganz und gar, weshalb er von Hause fortgegangen und in diesen Wald gekommen war.
Aber plötzlich wurde alles ganz anders um ihn her. Die Beeren fielen von den Sträuchern und verdarben am Boden. Die Bäume wurden dunkelrot und leuchtend gelb, das Moos an der Erde feucht und kalt, und die Blumen starben. Da wurde dem Funker schauerlich und einsam zumute, und er sah sich nach dem kleinen Vogel um, dessen Stimme er schon lange nicht mehr gehört hatte.
Der aber saß auf einem Aste und zwitscherte ganz laut: „Glück – Glück – komm – komm.“
„Ja, ja, ich komme,“ sagte Funker Morgen. Da flog das Vöglein hoch in die Luft und sang ein lustiges Lied.
Funker Morgen wanderte weiter über Berg und Tal. Bald war er hungrig und müde, denn im Walde fand er nun keine Nahrung mehr, und in den kalten Nächten konnte er nicht mehr im freien schlafen wie bisher, und so wanderte er denn Tag und Nacht weiter. Endlich, als er fast nicht mehr weiter konnte vor Hunger, Durst und Müdigkeit, sah er am Ausgang des Waldes ein grosses, weisses Schloss mit goldenen Toren leuchten. Die Abendsonne blitzte so hell in den kristallenen Fenstern und auf den goldenen Säulen, dass er die Augen schließen mußte vor all der funkelnden Pracht. Er setzte sich in den Schatten eines Baumes und freute sich, endlich etwas andres als Bäume und Gras und Blumen zu sehen und nun die Hoffnung zu haben, in dem reichen stolzen Schlosse gute Speise und ein weiches Nachtlager zu finden. Er war so müde, dass er fast einschlief, aber der Hunger jagte ihn weiter.
Als er dann an das goldene Tor des Schlosses kam, öffnete sich dieses weit vor ihm, und er ging verwundert über die mit goldenen Steinen gepflasterten Wege durch große, weite Hallen mit bunten Marmorsäulen. Dann kam er an einen Garten, so wunderschön, wie er noch nie einen gesehen hatte. Die Bäume und Blumen, der blaue See mit den weißen Schwänen funkelten wie lauter Edelsteine.
Aber alles schien tot, und nichts bewegte sich. Er griff nach den goldroten Früchten und freute sich, endlich etwas Gutes für seinen hungrigen Magen zu finden. Aber die schönen Früchte waren hart wie Stein und kalt wie Eis, und er konnte sie nicht vom Baume brechen, so fest waren sie angewachsen. Und als er aus dem blauen See Wasser schöpfen wollte, war auch das hart und fest wie Stein.
Da seufzte Junker Morgen laut auf. Und da stand plötzlich ein alter Mann mit eisgrauem Barte neben ihm, der rührte an seinen Arm und winkte, ihm zu folgen. Beide schritten sie schweigend zusammen durch viele große herrliche Zimmer voll Pracht und Reichtum. Endlich blieb der Alte vor einer Tür stehen, öffnete sie mit einem goldenen Schlüssel, und sie traten in ein wunderschönes Frauengemach. Da schlief auf purpurroten Polstern ein liebliches Königskind. Funker Morgen war ganz entzückt und konnte seine Augen gar nicht abwenden.
„Sie ist schön, nicht wahr?“ sagte da der alte Schloßwart. „Und siehe, sie soll dein Weib sein, und das ganze herrliche Schloß soll dir dazu gehören, wenn du heute um Mitternacht hier bist und ihren Zauber löst, indem du sie bei dem zwölften Schlage der Turmuhr auf den Mund küßt.“
„Weiter nichts?“ jagte Junker Morgen erstaunt.
„Die Aufgabe ist leicht, erfülle sie nur,“ sagte der Alte ernst. Dann gab er ihm den goldenen Schlüssel zur Tür und führte ihn an den Eingang zurück. „Heute mit dem zwölften Schlage!“ sagte der Alte.
„Ja, ja,“ rief lachend der Funker und trat hinaus. Ah, wenn das alles hier erst sein wäre, herrlich und in Freuden wollte er dann leben; da würde wohl der ganze Zauber vom Schlosse abfallen, wenn er die Prinzessin erlöst hätte, und all die köstlichen Früchte könnte man genießen, und die Schwäne auf dem See würden wieder schwimmen.
Da fühlte er wieder seinen Durst und Hunger und fing an zu denken, wo er wohl für die langen Stunden bis Mitternacht eine gute Mahlzeit finden könnte. Und wie er seine Augen so umherschweifen ließ, sah er aus einer kleinen Hütte am Rande des Waldes eine feine, dünne blaue Rauchwolke aufsteigen. Voll Freude lief er auf die Hütte zu. Leise schlich er heran und schaute durchs Fenster.
Da saß ein altes häßliches Weib auf einem Schemel. Sie hatte einen großen schwarzen Kater auf dem Schoß und streichelte ihn. Aber obgleich es aussah, als ob sie ihn mit zärtlichen Händen streichle, fauchte und krümmte sich der Kater, und als sie ihn endlich los ließ, sprang er mit einem Satz zum Fenster hinaus und dem Funker gerade an die Brust.
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