Yvonne Elisabeth Reiter
Die Chiemsee Elfen
1. Auflage 2020
Copyright ©2020 Yvonne Elisabeth Reiter
Chiemgauer Verlagshaus
Dahlienweg 5, 83254 Breitbrunn
www.chiemgauerverlagshaus.de
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen/Zeichnungen: Stefanie Dirscherl, Bernau am Chiemsee
Coverdesign: Constanze Kramer, coverboutique.de
Coverbilder: ©zeremskimilan, ©Vladislav Gudovskiy, ©Alekss, ©Lilya, ©jaboo2asay@gmail.com, ©Jochen Netzker, ©Laura Pashkevich, ©zenina – stock.adobe.com
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
»Bitte, bitte, Seanair«, bettelte Nimue und zog wild an dem Rockzipfel ihres Großvaters. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und bemerkte, dass sich nun endlich seine Gesichtszüge entspannten. Sie wusste genau, warum dies geschah; es war das Wort Seanair. Es bedeutet auf Gälisch Großvater, die Sprache ihrer Ahnen. Wenn Nimue im Gegensatz zu ihrem Großvater etwas unbedingt wollte, sprach sie ein paar Worte in Gälisch und schon bekam sie beinahe jeden Wunsch erfüllt.
»Bitte, Seanair, erzähl mir von meinen Vorfahren und ihrer alten Heimat«, bekräftigte sie noch einmal ihre Bitte.
Ihr Großvater nahm langsam in einem extra großen Ohrensessel Platz. Er holte tief Luft.
»Nun gut, meine Kleine, dann pass auf«, erwiderte Aar und sank dabei tief in den purpurroten, samtweichen Stuhl.
Nimue liebte diesen großen Sessel, in dem sie niemals selbst saß. Die breiten Armlehnen sowie auch die Füße waren aus altem Eichenholz. Er sah majestätisch aus und trotzdem gemütlich. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an die Beine ihres Großvaters. Dabei blickte sie auf das prasselnde Feuer im Kamin, das den Raum mit einem sanften orange-gelben Licht erhellte.
Aar legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte sanft über ihr Haar. Da begann er mit weicher Stimme zu erzählen: »Deine Vorfahren stammen aus dem schottischen Hochland, welches in Gälisch A‘Ghàidhealtachd genannt wird. Im Wald, am Rand des kleinen Dörfchens Cridhe, wuchsen sie auf. Der Ort war besonders schön gelegen, direkt an einer Steilküste der Nordsee.«
Nimue versuchte sich in Gedanken Cridhe vorzustellen. Dabei entdeckte sie Holzhäuser, die hoch oben auf einem Felsen über dem Meer standen. Diese wurden scheinbar von einem in die Höhe wachsenden, dichten Wald beschützt, der nur wenige grüne Flächen freigab. Das sich zu Wellen aufbäumende Wasser der Nordsee glitzerte im Sonnenlicht. Mit einer Wucht prallte es gegen die Felsen und doch ließ sich das alte Gestein nicht davon beeindrucken. Die Vorstellung einer derartig schönen Natur löste eine Wärme in Nimue aus, die die weiteren Worte ihres Großvaters noch tiefer in sie sinken ließen.
»Sie waren große Gestalten mit langen blonden oder braunen Haaren und so hübsch, wie du es bist.«
Nimue grinste ihn fröhlich an und fragte: »Sie waren größer als wir, nicht wahr, Opa?«
Er nickte. »Ja, größer als wir es heute sind. Aufgrund der langen und beschwerlichen Reise durch Land und Wasser haben sich unsere Vorfahren den Umständen entsprechend angepasst und sind daher in ihrer Größe um mehrere Zentimeter kleiner geworden.«
Erstaunt über diese Tatsache lehnte sie ihren Kopf zurück an sein Bein und lauschte weiter seinen Worten.
»Während sie in der Tiefe des Meeres entlangzogen, wurde die Beweglichkeit immer wichtiger. Sie wollten so schnell wie möglich eine neue Heimat finden. Eine geringere Größe unterstützte ihre Fortbewegung im Wasser. Trotzdem dauerte es Hunderte von Jahren bis sie den Ozean durchquert hatten« – kurz hielt er inne und atmete tief ein, um die weiteren Worte weich und sanft aus der Tiefe seines Körpers gleiten zu lassen – »vorher jedoch, da waren sie große Waldelfen, die über Jahrtausende friedlich in ihrem Königreich gelebt hatten. Damals regierte König Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Urgroßvater war. Meine Mutter hat mir aus ihrer tiefen Verbundenheit heraus seinen Namen gegeben.«
Nimue nickte, ohne seine Aussage mit Worten zu bestätigen.
»Ich habe gehört«, schwärmte er daraufhin, »dass die Blumen fortwährend blühten, und die Bäume waren das ganze Jahr über voller Blätter. Nur die Farben verrieten die jeweiligen Jahreszeiten. Der Frühling zeigte sich hell- bis smaragdgrün, der Sommer vermischte das Grün mit Gelb und Orange, der Herbst färbte es braun ein und der Winter verwandelte die Blätter langsam wieder zu einem strahlenden Grün.«
»Oh, wie schön, Opa.«
»Ja, das war es«, stimmte er Nimue zu. Da änderte sich seine Tonlage, die nun einen Ernst und eine Traurigkeit enthielt und damit seine nächsten Worte mit ihrer Schicksalsschwere unterstrich: »Bis die Dunkelelfen kamen und unser Volk vertrieben.«
»Warum haben sie das getan?«
»Der Kampf um Macht und Herrschaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dunkelelfen sind?«
Nimue hatte natürlich bereits über diese Wesen etwas gehört, dennoch wollte sie ihr Gedächtnis auffrischen. Sie schüttelte ihren Kopf, um ihre Unwissenheit anzudeuten.
»Die Dunkelelfen sind vom gleichen Urelfenstamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwestern und Brüder. Die Geburt unserer Urväter hat ein Gleichgewicht auf der Erde geschaffen, indem das Universum dem Guten und dem Bösen als Zwillingspaar zu gleichen Teilen das Leben schenkte. Wir gehören zu den Lichtelfen, wie du weißt. Dennoch sind die Dunkelelfen mit uns verwandt. Ihre Wesenheit ist jedoch grundverschieden. Sie sind hinterhältig und böse. Ich kann dir raten, ihnen immer aus dem Weg zu gehen. Lass dich niemals von ihnen täuschen« – seine Stimme wurde ausdrucksvoll tief – »denn auf den ersten Blick wirken sie gewinnend und freundlich. Man merkt ihnen ihre wahren Absichten nicht sofort an.«
Nimue spürte, wie sich ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
»Wie kann ich wissen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dunkelelfe ist?«, wunderte sie sich.
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