Aar schloss das Buch und legte es in einen Raum hinter einem Bild, den Nimue bisher nicht kannte. Er rückte das Bild wieder zurecht und rief: »Ich komme!«
»Was ist los, Marie?«, wollte Nimue wissen.
»Geh in dein Zimmer und warte, bis ich komme«, hörte sie daraufhin ihre Großmutter Oona sagen, ohne sie dabei zu sehen.
Marie und Aar verschwanden durch die Tür, worauf Nimue wie versteinert auf dem gleichen Platz stand.
»Was ist passiert?«, fragte sie sich. »Warum muss ich in mein Zimmer gehen?«
Langsam bewegte sie sich fort. Als sie dort ankam, überfiel sie die Neugierde. »Nein«, sagte sie bestimmend, »ich will wissen, was da los ist!«
Nimue schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und sah sich um. Der Gang war elfenleer. Daraufhin begab sie sich in die große Eingangshalle.
»Uhrilia, weißt du, was hier vor sich geht?«
»Ich weiß nur, dass vor genau 14 Minuten und zehn Sekunden Marie schreiend durch die Halle lief. Dann, genau fünf Minuten und drei Sekunden später, rannte die Kammerelfe Ttschi elfenschnell durch den Raum, gefolgt von anderen Elfen und ein paar Heinzelchen. Gerade eben, also vor zwei Minuten und 59 Sekunden, lief dein Großvater mit Marie durch die Halle und verließ sie durch die große Eingangstür wieder.« Uhrilia atmete tief durch. »Also«, beschwerte sie sich beleidigt, »mir sagt ja keiner was. Ich bin ja nur eine kleine Uhrenelfe, die die Zeit für alle im Überblick behält.«
»Danke, Uhrilia, das bist du bestimmt nicht. Wir sind alle sehr froh, dich zu haben.«
Diese ungewöhnlich netten Worte freuten die Uhr, und so lächelte sie vor sich hin.
Nimue ging in den Hof hinaus und sah allerlei Tiere, die fraßen, miteinander kommunizierten oder wild umherliefen. Sie blickte zu den Pferdeställen und entdeckte ihren Großvater, der hinter einer Stalltür verschwand. Diese stand einen Spalt weit offen und so verstand sie die Stimmen der anwesenden Elfen. Abrupt blieb sie vor der Tür stehen, um ihren Worten zu lauschen. Sie war sich nicht über die Identität aller dortigen Elfen sicher, doch ihre Großmutter, Aoife, Marie und auch die leise Stimme ihres Vaters hörte sie mit Gewissheit.
»Was sollen wir machen?«, fragte Oona besorgt.
»Wir brauchen Männer, und zwar viele«, vernahm sie Aars Stimme.
»Ich komme auch mit, Vater«, bestimmte Hubert entschlossen.
»Nein«, erwiderte Aar, »das ist zu gefährlich für dich. Du bist zu klein und daher zu angreifbar. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert!«
Darauf folgte ein lautes Raunen. Nimue war zu aufgeregt, als dass sie sich auf die einzelnen Worte hätte konzentrieren können. »Was ist da los?«, wunderte sie sich zunehmend. »Aar braucht ein Heer an Männern?«
Da hörte sie Oona mitteilen: »Ich gehe und läute die Glocke.«
»Die Glocke?«, erschrak Nimue. Man läutete die Glocke nur, wenn große Gefahr drohte. Was sollte das heißen? War Katar in Gefahr? Sollte das Krieg bedeuten oder eine Rettungsaktion? Sie wurde immer unruhiger und riss die Tür zum Stall auf.
»Was ist hier los?«, kreischte sie, da ihre Stimme vor Aufregung zitterte.
Marie warf ihre Hände in die Luft, während sie mit tiefer Stimme erwiderte: »Nimue, warum bist du nicht in deinem Zimmer!«
»Was ist hier los?«, wiederholte sich Nimue nun mit festem Unterton.
»Katar wurde überfallen. Wir wissen nicht, wo er steckt«, meinte Oona, die gerade an ihr vorbei in den Hof hinausging.
Die Glocke läutete dreimal. Dies war das Signal, dass alle Krieger ihre Pferde satteln mussten, um sich im Hof, am Eingangstor des Schlosses, zu versammeln.
Aar rannte an Nimue vorbei, während das Getümmel im Hof zunahm.
Nimue folgte ihm und sah einige Elfenmänner hoch oben auf ihren Pferden sitzen. Sie beobachtete ihren Großvater, wie er ein Messer in eine Satteltasche eines Kriegerelfs steckte. Bei diesem Anblick überkam sie der Wunsch, dabei zu sein und sie sagte entschlossen: »Ich komme mit!«
»Nein, Nimue, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Aar und verschwand in einen naheliegenden Tara-Pferdestall.
Unbeirrt ging Nimue zu dem Hengst, mit dem sie normalerweise ausritt, und holte ihn aus der Box. Sie sattelte ihn geschwind und stellte sich mitten unter die wartenden Männer. Mit ihrem blass-gelben Kleid fiel sie auf und so riefen ihr einige zu: »Hey, was machst du hier? Bleib im Schloss!«
Auch Aar entdeckte Nimue und nickte Oona zu. Es dauerte nicht lange und Nimue spürte eine sanfte Hand auf ihrem Rücken. Während sie diese leicht vom Pferd hob, gab Aar das Startkommando. Am Boden aufgekommen, wieherte ihr Hengst und rannte den anderen hinterher; ohne Nimue.
»Was denkst du dir eigentlich?!«, sagte Oona verärgert.
»Ich wollte doch nur …«
»Ja, nur! Das nur kann deinen Tod bedeuten. Du bist nicht für einen Kampf ausgebildet.«
Sie wusste, dass ihre Großmutter recht hatte. Trotzdem war sie aufgebracht. Nimue wollte Aar folgen, Katar retten, und Oona hatte es verhindert.
Nimue brauchte eine Weile, um die aus der Enttäuschung resultierende Wut wieder loszuwerden. Missmutig folgte sie ihrer Großmutter in Richtung Eingangshalle. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn, bis die Neugierde den Ärger vertrieb.
»Wer ist es?«
»Wer ist was?«, fragte Oona nach.
»Wer sind die Angreifer?«
»Das wissen wir nicht. Aus diesem Grund wurden die besten Krieger gerufen, sozusagen für alle Fälle. Wir hoffen, dass es übermütige kleine Wesen sind, die lediglich aufgrund ihrer Anzahl Katar und seine Frau Léa überwältigen konnten. Geh jetzt in dein Zimmer!«
Nimue folgte und tappte in aller Ruhe durch die Eingangshalle die Treppe zu den Arkaden hinauf. Da riss sie Uhrilia unsanft aus ihren Gedanken: »Nimue, erzähl schon, was ist los?«
Sie blieb an der obersten Stufe stehen und blickte direkt in Uhrilias Augen. »Katar und Léa wurden entführt.«
»Mamma Mia, von wem?«, fragte Uhrilia, während sie sich heftig schüttelte. Dabei hallten metallische Töne durch den Raum, als ob ein Triebwerk aufeinanderschlagen würde.
»Wir wissen es nicht, Uhrilia.«
»Solche Barbaren!«, rief sie laut.
Diese Antwort trieb Nimues Neugierde auf den Gipfel. Sie sah um sich und entdeckte weit und breit niemanden, auch Oona war bereits hinter Aars Bürotür verschwunden. Dann machte sie kehrt und lief zur Eingangstür zurück. Sie spitzte ihren Kopf hinaus und bemerkte, dass auch im Hof keine Elfenseele mehr zu sehen war. Schwuppdiwupp, und schon war sie in Richtung Eiche unterwegs. Um schneller voranzukommen, schwebte sie durch die Baumwipfel hindurch in Richtung ihres Freundes.
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