Dann ging alles ganz schnell. Sie lief weiter, als ob sie nichts bemerkt hätte, drehte sich geschwind um und machte dabei einen langen Satz zur Seite. Als sie wieder fest auf ihren Beinen stand, sah sie ihn vor sich stehen. Ein kleiner Waldgeist, der sich so erschrak, dass er ängstlich einen kleinen Baum umklammerte. Seine Hände und Füße zitterten und er rief: »Was wollt Ihr?«
»Was wollt ihr? Ihr seid es, der mir folgt.«
Er spürte, dass in ihrer Stimme kein Zorn oder Ärger lag. Offensichtlich erleichtert darüber, ließ er den Baum wieder los. »Ich wollte Euch sprechen, Eure Hoheit.«
»Gut, dann mal los«, bemerkte sie ungeduldig.
»Ich gehöre zu den Baumgeistern und oft sehen wir Euch durch den Wald laufen.«
Sie dachte sich bereits aufgrund seiner Erscheinung, dass er zu den Waldgeistern gehören musste. Sein Kopf ähnelte durch seine kegelförmige Krone einem Lärchenzapfen. Der Körper glich einer Holunderbeere, aus der lange Beine hervorragten. Als er seine Arme auf seinen Oberkörper legte, verschmolzen sie und verschwanden dabei komplett darin. Sein breites Gesicht hatte warme Augen und der Mund ließ selbst im geschlossenen Zustand einzelne Zähne herausstehen. Er war offensichtlich keine Schönheit, und doch hatte er für Nimue etwas unbeschreiblich Schönes, was sie berührte.
»Wir kennen Euch schon, seitdem Ihr ein Baby wart. Der König und auch Euer Großvater Aar kamen damals oft mit Euch in den Wald und zeigten Euch all seine Schätze. Auch wir wurden uns schon einmal vorgestellt. Daran könnt Ihr Euch bestimmt nicht mehr erinnern.«
Nimue wusste es wirklich nicht mehr, wollte seine Gefühle dennoch nicht verletzen und sagte: »Ich kann mich an keines meiner ersten Lebensjahre erinnern. Das tut mir leid, kleiner Geist.«
Dieser winkte ab, als Nimue für einen kurzen Moment einen Arm erkannte, der daraufhin wieder mit seinem Körper verschmolz. »Wie ist dein Name?«, wollte sie wissen.
»Freude, da ich meinem Volk mit jedem Lächeln Freude schenke.«
Nimue verspürte bei diesen Worten auch eine Freude in ihr aufsteigen und fragte: »Du und deine Familie möchten zum Fest kommen, nicht wahr?«
»Ja, wenn du, ach, Ihr es wollt?«
»Du ist in Ordnung. Wie viele seid ihr?«
»15, Eure Hoheit.«
»Sonst noch was?«
Er schüttelte den Kopf.
Nimue verabschiedete sich mit den Worten: »Bis bald, Freude. Ich freue mich, dass ihr zu meinem Fest kommt.« Kurz darauf verschwand sie im Dickicht des Waldes.
Nimue erreichte das Schloss ohne weitere Vorkommnisse und blieb in der großen Eingangshalle stehen, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Es war eine besondere Uhr, nämlich eine lebende Elfe namens Uhrilia, deren Flügelschlag jede Minute anzeigte. Diese Elfe war um mehr als einen Meter kleiner als die anderen Elfen. Bei genauer Betrachtung hätte man meinen können, dass sich schon von Geburt an zeigte, dass sie einmal eine Uhr werden sollte.
Uhrilia öffnete ihre Augen nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf und entdeckte Nimue in der Halle. »Bald ist es drei Uhr, Nimue, und nur noch zwei Stunden, bis Katar kommt«, sagte sie gähnend.
Nimue bedankte sich für die Zeitangabe und ging in ihr Zimmer.
»Was soll ich an einem Tag wie diesem anziehen?«, fragte sie sich.
Ein Kleid, da war sie sich sicher, aber welches? Welches ihrer Kleider war angemessen für den Bruder des Königs? Nimue setzte sich auf ihr Liegesofa und stellte sich ihre Garderobe bildlich vor. Plötzlich stieg in ihr ein sicheres Gefühl auf, das richtige gefunden zu haben. Es sollte ihr hellgelbes Kleid sein. Ihre Empfindung war unbeschreiblich klar, deutlicher als jedes ausgesprochene Wort es hätte sein können. Sie machte sich keine Gedanken darüber, woher dieser Impuls kam, sondern freute sich, eine schnelle Entscheidung getroffen zu haben.
Entschlossen sagte sie: »Schrank, kann ich bitte das hellgelbe Kleid haben?«
Ihre Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen und schon öffneten sich die Türen, begleitet von einem lauten, knarrenden Holzgeräusch. Sie sah das gewünschte Kleid, das wie von Geisterhand aus der Reihe hervorragte, und nahm es an sich.
Der Schrank bemerkte: »Das Kleid, so edel wie du, meine Elfenprinzessin. Es soll dich an einem schönen Abend schmückend begleiten.« Daraufhin gingen die Türen wieder zu.
»Danke, lieber Schrank.«
Sekunden später war Nimue hinter einem Paravent aus Mahagoni verschwunden. Dort zog sie sich um. Mit einem wohligen Gefühl stellte sie sich kurz darauf vor den Spiegel. Das blasse Gelb schimmerte im Kerzenlicht und sie spürte die edle Baumwolle geschmeidig auf ihrer Haut liegen. Das Oberteil hatte dünne Träger und verschmolz beinahe mit ihrem Körper. Der Rock war weit und lang. Nur noch ein paar Zehen spitzten darunter hervor. Am Rücken waren unsichtbare Elfenflügel befestigt, deren Erscheinung nur im Kerzenlicht aufflackerte. Dieses Kleid hatte ihre Großmutter selbst genäht. Es stand ihr einzigartig gut und so erwähnte die Spiegeldame: »Schön siehst du aus, Nimue.«
Nimue freute sich über das Kompliment und bedankte sich bei ihr. Dann ging sie in das Büro ihres Großvaters. Dort angekommen, sah sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen.
»Hallo, meine Kleine, schon fertig, wie ich sehe.«
Sie nickte. »Ich wollte mit dir sprechen, Opa.«
Nach einer leichten Kopfbewegung nach unten wandte er sich wieder dem Buch zu, das direkt vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es war groß und hatte hellbeige Blätter mit schwarzer Tinte darauf.
Nimue bewunderte den Rand des Umschlags, der dick und aus feinstem braunem, sehr altem Leder war. Sie konnte sich nicht erinnern, das Buch schon einmal gesehen zu haben, und so wanderten ihre Blicke langsam über die Seiten. Dabei fingen ihre Augen an, das Buch zu fixieren. Irgendetwas zog ihre Aufmerksamkeit regelrecht an. Sie fühlte, wie sich ihre Blicke verselbstständigten. Es war ihr urplötzlich nicht mehr möglich, ihre Augen von dem Werk abzuwenden.
Aar erkannte dies und lächelte. »Um was geht es denn?«
Nimue musste ihren Kopf mit einem heftigen Ruck wegziehen, um das Buch nicht mehr anzustarren. Danach setzte sie sich auf einen Stuhl, der gegenüber von Aars Ohrensessel am Kamin stand. Von diesem aus konnte sie ihren Großvater gut sehen. Er blickte immer noch auf die geöffneten Seiten, und doch wusste Nimue, dass er ihren Worten aufmerksam lauschen würde.
»Ich war heute im Wald, Opa, bei der Eiche, und habe meditiert. Aaro meinte, dass ich auf dem Weg zu meinem inneren Selbst war. Kann das sein?«
»So, so, die Eiche meinte das«, bemerkte er schmunzelnd. »Was hast du dabei erlebt, meine Kleine?«
Читать дальше