»Ich weiß es nicht, aber schön war es schon. Ich habe versucht, nicht mehr zu denken, und irgendwie war das echt schwierig, und dann sagte Stúhly, dass ich mich auf einen Stein konzentrieren sollte, der vor mir lag. Danach war alles anders. Ich dachte nichts mehr und fühlte eine Wärme, die meinen Körper entspannte. Es war, als ob ich durch eine traumhafte, dennoch mir verborgene Landschaft wandeln würde. Dort zeigte sich mir ein Schwan. Gleich danach sah ich auch das Wasser, in dem er schwamm. Der Schwan war wunderschön, Opa.« Sie hielt kurz inne. »Eine Stimme habe ich aber nicht gehört. Wie soll ich nur meine innere Stimme finden?«
»Wie hast du dich dabei gefühlt?«
»Gut. Es war so ähnlich wie früher, bei Mama und Papa, wenn ich in ihrem Bett zum Kuscheln lag oder wenn du oder Oma mich ganz fest drückt. Auf jeden Fall war es schön.«
»Du hast dich beschützt, geliebt und aufgehoben gefühlt. Du bist dem ursprünglichen reinen Zustand deiner Seele nähergekommen. Dieser besteht aus wahrer Liebe. Seit deiner Geburt kann ich sie in deinen Augen strahlen sehen. Diese feinen Empfindungen werden dir ein guter Wegweiser sein.«
»Aber die innere Stimme, Opa?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Die innere Stimme ist dein Gefühl. Du wirst keine Laute in deinen Ohren hören, wie du meine oder andere Stimmen hörst. Es ist in dir. Manchmal besteht ausschließlich das Gefühl, und manchmal fühlst du und verwandelst deine Empfindungen in Worte.«
»Das Wasser, in dem der Schwan schwamm, hat mich an unser Brunnenwasser erinnert, nur zeigte es sich viel klarer«, sprudelte es dann aus ihr heraus.
»Ja, die Quelle deiner Seele.«
»Und der Schwan?«, fragte Nimue.
»Frag ihn doch, vielleicht ist er dein Seelentier. Jede Elfe hat ein Seelentier. Zu unterschiedlichsten Zeiten zeigen sie sich ihren Schützlingen. Vielleicht wollte dir der Schwan mitteilen, dass er dein Seelentier ist. Oder hast du ein anderes?«
»Nein, habe ich nicht. Zumindest weiß ich nichts davon. Ich wusste ja bis gerade eben nicht einmal, dass es Seelentiere gibt.«
»Du könntest ihn fragen, warum er sich dir zeigt.«
»Das mache ich gleich morgen, Opa«, erklärte sie entschlossen.
Nimue lehnte sich zurück in den Stuhl und verlor sich in ihren Gedanken. »Die innere Stimme ist also ein Gefühl«, dachte sie. »Wie kann sie mir dann den richtigen Wunsch mitteilen?« Erst wollte sie Aar danach fragen. Dann jedoch sah sie ihn eine aufgeschlagene Seite so intensiv studieren, dass Nimue ihn nicht noch einmal stören wollte. Sie entschied sich für einen späteren Zeitpunkt und beobachtete ihn beim Lesen.
Für sie stellte er die Vollkommenheit eines Elfen dar. Er war einige Zentimeter größer als sie. Hatte langes, hellbraunes Haar. Seine spitzen Ohren ragten über die Haare hinaus und waren an den Enden etwas schrumpelig. Das Haar glänzte im Kerzenlicht, wobei sie einige Lichtreflexe durch sein Gesicht laufen sah. Seine Augen waren groß und von einem Blau, welches nicht klarer und reiner hätte sein können. Er hatte eine lange, gerade Nase und sein Mund war fein, und doch hatte er keine schmalen Lippen, wie es für Elfen üblich war. Seine Hautfarbe war bläulich, da er nur selten an Land ging, mit einem braunen Schimmer darin. Er trug meistens einen grünen Gehrock mit Gürtel, eine braune Hose und altes, gebundenes Leder als Schuhe.
»Willst du wissen, Nimue, was für ein Buch das ist?«
Sie nickte aufgeregt.
»Es ist unser Ahnenbuch, in dem alle deine Vorfahren stehen. Es heißt Shenjam.«
Ihre Augen weiteten sich. »Alle?«
»Ja, alle.«
»Du auch, Opa?«
»Ja, ich auch und du auch, meine Kleine.«
Nimue sprang auf und rannte zu ihrem Großvater, lehnte sich bei ihm an den Stuhl und betrachtete die aufgeschlagene Seite. Dort war sein Vater Seoras, der König, festgehalten. Am oberen Rand konnte sie lesen »Sohn des Tadgh, ehemaliger König des Königsreichs Shenja – SEORAS, König des Königreichs Shenja.« An beiden Seiten befand sich eine Pflanze, die von unten nach oben wuchs.
»Siehst du die Pflanze, Nimue? Sie wächst, solange die Elfe am Leben ist. Der Tod beendet ebenso ihr Wachstum. Dadurch kann man schon beim ersten Blick erkennen, ob die Elfe noch am Leben ist und, falls nicht, wie alt sie geworden ist.«
Er blätterte eine Seite weiter. Auf dieser war die Pflanze nur zur Hälfte hochgewachsen und Nimue stellte fest – im Gegensatz zu der vorherigen – sie bewegte sich nicht leicht hin und her. Sie las den Namen Barabel und wusste sogleich wieso. Es war ihre Urgroßmutter, die auf der langen Reise in England umgebracht worden war.
»Was ist das für eine Blume?«
»Das ist ein Efeu, Mamas Lieblingspflanze.«
Er blätterte eine Seite weiter und da war Katar. Seine Blume war ein gelber Fingerhut, der sich leicht bewegte. »Siehst du, mein Onkel liebt den gelben Fingerhut. Besonders seine reine, gelbe Blütenfarbe hat es ihm angetan.« Er blickte kurz zu ihr auf und bemerkte: »So wie dein Kleid. Gute Wahl!«
Sie lächelte zufrieden. »Und ich, Opa, was habe ich für eine Blume?«
Er blätterte weiter und weiter, bis er auf ihre Seite stieß. Mittig am oberen Rand las sie: »Tochter des Hubert, des Königs Enkel – NIMUE, Urenkelin des Königs.« Dann entdeckte sie ihre Blume am unteren Rand. Sie war noch ganz klein. Sie machte den Anschein, als ob sie gerade erst zu wachsen begonnen hätte.
Erstaunt fragte Nimue: »Wie kann das Buch das wissen? Wie geht das? Diese Blume wächst doch seit meiner Geburt?«
»Ja, das tut sie und ja, es weiß mehr als du ahnst. Wenn du bereit bist, wirst du es auch lesen können.«
»Wie meinst du das?«
»In dieser Schrift liegen dir viele Worte noch verborgen. Sie zeigen sich nur den Auserwählten. Auch ich kann nur bedingt über unsere Vorfahren lesen.«
»Wer kann dann alles darin lesen?«
»Seoras ist ein Auserwählter. Ihm zeigen sich alle Wörter.«
»Was steht in diesem Buch?«
»Alles über den oder die Elfe, deren Name oben am Rand steht. Dabei spielen Herkunft, Charakter, Kämpfe, Verdienste, Ehe, Freunde, Feste, bewusste und unbewusste Taten eine Rolle; einfach alles, das vollkommene Leben dieser Elfe.«
»Wow. Meinst du, dass ich irgendwann mal die Wörter lesen kann?«
»Vielleicht, Nimue, vielleicht.«
»Kann ich die Blumen meiner Eltern sehen«, fragte Nimue ein wenig traurig.
Er holte gerade Luft, um zu antworten, als abrupt die Tür aufgerissen wurde.
Nimue erschrak heftig, dann hörte sie Marie schreien: »Katar, Katar!«
Es lag eine Bedrohung in ihrer Stimme, was Nimue beunruhigte. Im Grunde gab es keine Unruhen oder andere bedrohliche Ereignisse in ihrem Elfenleben, und doch lehrte ihr Großvater sie, immer achtsam zu sein. Leichtsinn konnte schreckliche Folgen haben, wie sich an ihrer Familiengeschichte bereits zeigte.
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