»Ja«, antwortete Eikondia und sprach langsam und bedacht weiter, »vielleicht hast du noch eine Idee, wie es doch gehen könnte?«
»Ich kann ja einmal darüber nachdenken?«, schlug Nimue vor. Doch Eikondias Blick senkte sich und da meinte Nimue: »Versprochen!«
Aaro nickte zustimmend. Dann forderte er Nimue auf: »Nun schnell rein da«, während er mit einem Zweig auf seinen bereits offen stehenden Baumstamm deutete. »Du hast heute noch einiges vor, nicht wahr? Geplaudert wird ein andermal.«
Sie folgte seiner Anweisung und ging in die Höhle. Dabei begrüßte sie die Stuhldame, die noch ein wenig beleidigt mit einem leisen »Hey« antwortete.
Nimue setzte sich auf den Boden und kreuzte ihre Füße, so wie der Eichenbaum es ihr erklärt hatte. Die Hände legte sie dabei auf ihre Oberschenkel. Währenddessen hörte sie laute Krachgeräusche von Aaro, der nun all seine Energie auf die Höhle konzentrierte. Dann wurde es warm um sie herum. Sie flüsterte: »Danke, Aaro.«
Gleich darauf bebte der Boden unter ihr sanft, und sie wusste, dass dies »Bitte« heißen sollte.
Sie wollte keine Zeit verschwenden und fing sogleich an, über ihre Wünsche nachzudenken. Bei einigen Ideen wurde ihr Herzschlag schneller und sie dachte: »Vielleicht ist das ein Zeichen?« Sollte sie mehr auf Zeichen achten, anstatt etwas zu suchen, das sie nicht hören konnte? Sie war verwirrt. Fragen über Fragen begannen in ihrem Kopf zu kreisen: Wie hört man seine innere Stimme? Ist mein großer Wunsch nicht real?
Da murmelte sie: »Woher kommt der Wunsch zu reisen? Geht er von meiner inneren Stimme aus oder will nur eine meiner Emotionen das Gleiche wie Cara erleben?«
Sie hatte keine Ahnung. Wenn sie nun all die kleinen und großen Wünsche in ihrem Kopf auf eine Waagschale legte, reagierte diese unterschiedlich darauf. Manche Wünsche hatten mehr Gewicht, weil sie das bedrückende Gefühl der Vernunft dabei spürte, und andere wiederum waren leichter. Dabei fühlte sie vor allem eine aufregende Begeisterung über die Erfüllung. Trotz dem intensiven Visualisieren hörte sie jedoch keine Stimme. Sie kam zu keinem Ergebnis, und so dachte sie an das einzigartige Gefühl der Leichtigkeit vom vorherigen Tag, aus dem die Stuhldame sie unsanft herausgezogen hatte. Was wollte ihr dieses Gefühl sagen? War sie möglicherweise auf dem richtigen Weg und kurz davor, ihre innere Stimme zu hören, oder war es nur etwas ganz anderes? Etwas, das sie noch nicht kannte und daher nicht verstand.
Sie seufzte, denn ihr wurde immer deutlicher bewusst, wie wenig sie vom Leben wusste. Diese Erkenntnis begann an ihr zu nagen, wie ein Hund, der seinen Knochen liebt. Das Verlangen schaffte eine Bereitschaft, den Mut für das Neue aufzubringen. Auch wenn sie die Welt erobern wollte, brachte die damit einhergehende Veränderung eine Furcht mit sich.
Nach einer Weile bemerkte sie: »Aaro, ich denke und denke und finde die innere Stimme nicht.«
»Nimue, nicht denken. Schalte deine Gedanken aus und gehe in dich. Deine innere Stimme kannst du bestimmt nicht hören, wenn deine Gedanken lauter sind als sie es ist. Entspann dich und hör auf zu denken!« Er seufzte. »Immer dieser Kopf, der ist das größte Übel.«
»Wie meinst du das?«
Ein undefinierbares Geräusch ging durch den Raum, das Nimue im ersten Moment erschreckte. Sie hielt den Atem an.
»Es ist so« – er holte tief Luft – »deine Gedanken schwirren durch den Kopf und dann, na dann bist du nicht mehr ruhig und kannst dich nicht mehr auf das konzentrieren, was du eigentlich machen willst: deine innere Stimme finden.«
»Ja, so war es gerade«, schoss es aus ihr heraus, denn ihre Gedankengänge ließen manchmal ihr Herz schneller schlagen. Das bewirkte eine innere Unruhe. Gleichzeitig fingen noch mehr Gedanken an, sich im Kreis zu drehen und lenkten sie ab.
»Versuche sie abzustellen und überwinde sie.«
»Überwinden?«, stellte Nimue infrage.
»Stell dir die große Marktmauer auf der Zauberinsel Süd vor. Wenn du außerhalb stehst, kannst du das Fest nicht sehen. Trotzdem ist es da, nicht wahr? So wie diese Mauer, versperren dir deine Gedanken die Sicht auf dein inneres Ich, dein Seelenreich, die unsterbliche Seite von dir, deine innere Stimme.«
Nimue war beeindruckt über die Weisheit ihres Freundes und sagte: »Ich probiere sie abzustellen.«
»Gut, so soll es geschehen«, erwiderte der Eichenbaum.
Nimue hatte jedoch keine Ahnung, wie man Gedanken erfolgreich abstellt. Denkt man nicht immer, irgendwie, war sie sich sicher.
Stúhly erkannte ihre Unsicherheit und schlug vor: »Konzentriere dich auf den Furchenstein vor dir. Das wird dir helfen.«
Ohne ihre Worte infrage zu stellen oder ihr zu antworten, tat sie dies. Sie fixierte den Kalkstein, der von schlangenartigen Rinnen durchzogen war. Dennoch entstanden wieder Gedanken, denn unbewusst fing sie an, den Stein zu beschreiben: seine natürliche Form, sein Muster, die verschiedenen Farben und seine mineralische Zusammensetzung. Es dauerte eine Weile, bis sie den Stein für sich definiert hatte. Sie stoppte noch im Kern ein paar andere, sich einschleichende Gedanken, bevor ihr Kopf all die Schwere losließ, die er kürzlich innehatte. Auf diese Weise verschwamm der Stein nach und nach vor ihren Augen. Es war, als ob ihre Sehkraft sich von außen nach innen wandte und dabei die äußere Erscheinung im vollkommenen Dunkeln stehenließ. Nachdem sie vollständig im Meer des Nichts eingetaucht war, schloss sie ihre Augenlider. Daraufhin fühlte sie, wie sich ihre Brust allmählich öffnete und dabei erwärmte und dann, plötzlich, war sie wieder in diesem Zustand, der sich so gut anfühlte. Kein Gedanke belastete sie mehr. Keine Worte kreisten in ihrem Kopf. Es bestand nur noch das Gefühl; warm, rund und wohlwollend. Nichts wurde mehr infrage gestellt, erklärt oder bestimmt, sondern ausschließlich gelebt. Sie wusste nicht, wie lange dieser Moment anhielt, als sich ein Bild vor ihr auftat. Gleichzeitig nahm der schwerelose Zustand das normale Körpergefühl wieder an. Dadurch fühlte es sich schwerer und anfangs belastend an.
Nimue öffnete ihre Augen und sah die Stuhldame direkt vor ihr stehen. Ihre Rückenlehne dehnte sich derart, dass darauf ein lachender Mund sichtbar wurde.
»Na, wie war’s?«, wollte Stúhly wissen.
»Schön, aber wo war ich?«
Schlagartig krachte es um sie beide herum. Der Baum bewegte sich wild hin und her: »Du wirst doch nicht, Stuhl?!«
»Nein, nein, ich habe gewartet bis Nimue selbst zurückkam.«
»Gut zu hören. Wie war’s, Nimue?«, fragte er daraufhin beruhigt.
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