Keines der Zauberwesen im Umkreis von hundert Kilometern wollte sich diesen festlichen Markt entgehen lassen, und so trafen sie sich jährlich auf der Zauberinsel. Diese Insel war für das menschliche Auge eine kleine Insel auf dem Chiemsee. Nichtsdestotrotz lebten dort viele Zauberwesen. Zusätzlich fand dort der alljährliche Markt statt. Die Zauberschule war ebenfalls auf dieser Insel integriert. Dies war nur möglich, weil dort Raum und Zeit nicht im üblichen Sinne existierten. Der Raum war immer so groß, wie er benötigt wurde, und die Zeit konnte hie und da verzaubert werden. Für das Fest bedeutete dies, dass alle Gäste ausreichend Platz hatten und manchmal schossen bei großer Nachfrage noch weitere Restaurants oder Cafés aus dem Boden. Zudem verlief die Zeit langsamer, ruhiger und gemütlicher als sonst. Sie dehnte sich derartig aus, dass man gefühlsmäßig drei Tage feierte und nicht einen, wie kalendarisch bestimmt.
Es gab dort viele Verkaufsstände, die sich an den mit Kopfsteinpflastern belegten und manchmal sehr kurvigen Gassen aneinanderreihten. Zudem existierten viele Läden mit allerlei Gebrauchswaren, Textilien und Antiquitäten. Alles, was das Herz begehrte, konnte man an diesem Tag erwerben.
Manches Mal sah man Wesen, die wie wild einkauften. Sie gaben Mengen von Gold-, Silber- oder Bronzeringen aus, was nicht selten auf einen Zauberspruch des Verkäufers zurückzuführen war. Dies war allerdings nur mit Wesen möglich, die sich davor aus Leichtsinn nicht schützten. Dabei konnte der Zauber sie direkt im Herzen treffen und ihre Einkaufslust so steigern, dass sie alles nur Mögliche mitnahmen. So nahm der Kaufrausch kein Ende und der Verkäufer wurde dafür reich belohnt.
Nimue konnte dies nicht passieren, da Aar jedes Jahr erneut eine unsichtbare Schutzhülle über ihren Körper legte. Sie liebte vor allem die Bücherläden. Dort konnte sie die Welt außerhalb ihres Königreichs erkunden. Oft stand sie stundenlang in einem dieser Geschäfte und suchte nach dem richtigen Buch oder las Zeitschriften mit den Ereignissen des letzten Jahres oder sprach mit den Verkäufern über deren Erlebnisse. Ihre Schwestern waren währenddessen in Cafés oder Bekleidungsgeschäften und kümmerten sich nur wenig um die Leidenschaft ihrer kleinen Schwester. Ihre Interessen waren grundverschieden. Deshalb trennten sie sich meist am Eingang und trafen sich wieder am Ende des Tages, wenn der festliche Ort mit all seinen schönen Häusern, Gassen und Springbrunnen wieder ins Nichts verschwand.
In der Regel lief dieser Festtag friedlich ab und doch kamen manchmal böse Wesen, die das ganze Fest durcheinanderbrachten. Sie zerstörten Geschäfte, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten, oder vergifteten die Speisen und Getränke der Cafés, sodass sich die Gäste übergeben mussten. Egal, was an diesem Tag angestellt wurde, es zog besonders harte Strafen nach sich. Der Grund dafür war, dass die Zauberwelt diesen Tag dem Licht widmete und somit allem, was damit verbunden war. Dies war so heilig, dass sich normalerweise auch die dunklen Wesen daran hielten, und doch gab es immer wieder Ausnahmen.
Nimue lag schon seit einiger Zeit im Bett, als der Mond nach und nach mehr in ihr Zimmer schien. Die Fenstersprossen zogen dabei seltsam ausgefranste Streifen an den Wänden entlang, die sie an die Längsstreifung der Wachtel erinnerten.
Durch die magische Wasserenergie erreichten die Lichtstrahlen der Sonne, des Mondes und der Sterne das Reich Shenja intensiver als auf dem Land. In dieser Nacht leuchtete der Mond besonders hell und Nimue beobachtete die Schatten an der Wand, die sich langsam nach unten bewegten. Dabei fiel ihr eine Laterne am Ufer der Fraueninsel ein, die ihr besonders gefiel. Sie konzentrierte sich darauf, schärfte ihre Sinne, um auf die weite Entfernung klar sehen zu können und musterte sie. Dabei sah sie ein Paar am Ufer stehen, das sich unterhielt. Die beiden hatten ihren Hund Bello dabei, der Nimues Blicke spürte und zu bellen anfing.
Das Paar sah sich um und verstand nicht, warum der Hund das Wasser anbellte. Sie versuchten, Bello zu beruhigen, jedoch vergeblich, da dieser in Wahrheit nicht aufgewühlt bellte, sondern mit Nimue sprach. Er erzählte ihr lautstark, dass er ein neues Kunststück gelernt hatte und wie toll es aussehen würde. Er könnte es ihr jedoch nicht sofort zeigen, da seine Besitzer das nicht verstehen würden.
Bello vermutete: »Weißt du, Nimue, für das Kunststück gebe ich verschiedene Laute von mir. Einer hört sich wohl klagend an. Ich glaube, da denken meine neuen Eltern, dass ich winsle und Schmerzen habe. Menschen verstehen meine Darbietung halt nicht.«
Gleichzeitig fingen seine Besitzer an, ihn vom Ufer wegzuziehen. Er wehrte sich noch für ein paar Sekunden, um Nimue zuzurufen: »Gute Nacht, Eure Hoheit. Bis bald, Nimue.«
Dann gab er nach und folgte ihnen.
»Gute Nacht, Bello«, antwortete sie in Gedanken, die für Bello hörbar waren.
Nachdem er weg war, fragte sie sich, warum sie neuerdings so viele »Eure Hoheit« nannten. Sie war es gewöhnt, dass man sie mit ihrem Vornamen ansprach und ausschließlich damit. Doch dies hatte sich seit ein paar Wochen geändert. Das Durcheinander in ihrem Kopf überforderte sie allmählich. Es eröffnete sich eine ungeklärte Frage nach der anderen. Ihr wurde klar, dass sie in diesem Moment keine Antwort auf all ihre Fragen finden würde und so schloss sie ihre Augen und schlief ein.
Bald darauf hörte Nimue eine ihr unbekannte, weiche Stimme rufen: »Nimue, Nimue, komm, sprich mit mir.«
Sie erwiderte: »Ich darf nicht so viele zu meinem Fest einladen.«
»Nimue, Nimue, wo bist du?«
Nimue verstand die Frage nicht und antwortete: »In meinem Zimmer, wo denn sonst?«
»Schau um dich und sieh selbst.«
Sie öffnete ihre Augen und sah, dass sie nicht in ihrem Zimmer war, sondern auf einer Wiese, die voll blühender Blumen war. Kleeblätter reihten sich aneinander, und die Farbenpracht der Gräser und Blumen war unbeschreiblich intensiv und bezaubernd. Erstaunt sah sie um sich und erkannte, dass viele Tannenzapfen am Boden lagen und das, obwohl keine Tannenbäume oder andere Bäume weit und breit zu sehen waren. Eine endlose Weite lag vor ihr, die unbeschreiblich harmonisch wirkte. Da spürte sie ihre nackten Füße im Gras. Immer stärker nahm sie die Berührung wahr, bis sie das Gefühl hatte, sich mit der Erde zu verbinden. Dabei entfachte sich eine Wärme in ihren Füßen, die sich behutsam über den ganzen Körper ausbreitete. Sie vermittelte ihr ein wohliges Gefühl. Zur gleichen Zeit fing es an, Blätter vom Himmel zu regnen. Nimue blickte nach oben und sah viele verschiedene Farben, die den Himmel wie einen bunten Teppich aussehen ließen. Es war, als ob jede Jahreszeit ihre Blätter auf die Erde herabfallen lassen und somit mit ihr kommunizieren würde. Zudem funkelten sie im Sonnenlicht, als ob sie Gold in sich tragen würden. Einige berührten sie weich auf ihrer Haut, während sie den Boden ansteuerten. Nach einer Weile mischten sich Fichten- und Lärchenzapfen darunter, die golden schimmerten. Auch diese berührten sie, allerdings so sanft, als ob es Federn wären. Dann vermehrten sich die Arten, sodass Nimue den Überblick verlor.
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