»Was glaubst du, werden die Frauen sagen, sobald ich ihnen eröffne, was genau diese Stelle beinhaltet?«, hatte er ihn gefragt und Nathan hatte selbst durch das Telefon gehört, dass sein alter Freund unruhig hin und her lief.
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, Matt. Und ich denke, du schätzt Frauen vollkommen falsch ein. Zwei Millionen Pfund für ein Jahr. Unter dieser Bedingung werden die meisten zustimmen.«
Nathan war noch immer davon überzeugt. Matthews Zweifel hatte er beiseitegeschoben und das Telefonat zügig beendet. Nun saß er mit einem zweiten Glas Whisky vor seinem Computer und stellte die Stellenanzeige online.
Warten war noch nie seine Stärke gewesen und die letzten Jahre hatten es nicht besser gemacht. Nein, korrigierte er sich im Stillen. Eigentlich war es im Krankenhaus noch schlimmer geworden. Es hatte ihn wahnsinnig gemacht, jeden Tag nur geringe Fortschritte an sich wahrzunehmen. Die Hand ein wenig höher heben, ein paar Schritte mehr gehen, ehe er erschöpft in einem Rollstuhl zusammenbrach.
Ein drittes Glas Whisky brannte seine Kehle hinab. Doch die Erinnerungen konnte der Alkohol nicht auslöschen. Die Schmerzen hatte er zwar überwunden, doch noch immer verging kein Augenblick in seinem Leben, an dem er nicht daran erinnert wurde, was er verloren hatte. Er hörte den Regen, die laute Musik im Radio, hörte das Quietschen seiner Reifen, als er die Kurve zu schnell nahm.
Nathan stand hastig auf und durchquerte sein Büro. Er würde sich diesen Tag nicht noch weiter ruinieren lassen.
Emma schaltete das Licht nicht ein, als sie am Abend die Wohnung betrat. Ihre Handtasche mit den Unterlagen für die Behandlung ihres Vaters fiel wie ein Stein zu Boden. Sie wollte nur noch unter die Bettdecke kriechen und darauf warten, aus diesem Albtraum zu erwachen. Doch die Erinnerung an ihren Vater, angeschlossen an diesen Maschinen, die in einer Tour piepsten, machten ihr noch einmal allzu deutlich, dass es aus diesem Albtraum kein Erwachen geben würde. Und sie schuldete es ihrem Vater, sich vor dieser Wahrheit nicht zu verstecken. Es würde ihm nicht helfen, wenn sie sich die Decke über den Kopf zog und sich vor der Welt versteckte. Sie musste kämpfen.
So erlaubte sie sich nur für ein paar Minuten die Grausamkeit der Welt auszusperren, während sie versuchte, sich mit einer heißen Dusche zu entspannen. Emma vermisste die Badewanne, die im Bad ihres Elternhauses gestanden hatte. Um ihrem Vater die nötige Behandlung zu finanzieren, wäre sie jedoch sogar bereit, gänzlich auf ein eigenes Badezimmer zu verzichten.
Die Unterlagen waren das erste, was sie sich griff, als sie aus dem Bad kam. Im Schlafanzug setzte sie sich auf die Couch in ihrem Wohnzimmer und zog die Broschüre aus der Mappe. Sie las sich die beschriebene Behandlungsmethode durch, die Ergebnisse der letzten Studien, Berichte von behandelnden Ärzten. Irgendwann schwirrte ihr der Kopf von Zahlen, Prognosen und Fachtermini. Als sie die Broschüre zur Seite legte, starrten ihr aus der Mappe die für die Behandlung zu erwartenden Kosten entgegen. Emmas Finger zitterten, als sie nach dem Blatt griff und es aus der Mappe nahm. Fünfhunderttausend Pfund. Wie lange würde sie arbeiten müssen, um diese Summe bezahlen zu können?
Sie ballte das Papier zusammen und warf es wütend gegen die Wand, stopfte die Broschüre zurück in die Mappe und legte sie auf den Tisch. Mit fahrigen Bewegungen strich sie sich durch das lange, braune Haar. Sie schloss für einen Moment die Augen und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Auf einmal fühlte sie sich entsetzlich erschöpft. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf den Laptop. Sie hatte nach Stellen sehen wollen, doch sie war zu müde, um auch nur den Arm danach auszustrecken.
»Morgen«, versprach sie sich und streckte sich auf der Couch aus. Sie war sogar zu erschöpft, um ins Bett zu gehen. Sie zog sich die Wolldecke bis zu den Schultern hoch und versuchte, die Bilder aus dem Krankenhaus nicht mit in ihre Träume zu nehmen.
»Habe ich schon erwähnt, dass ich das Ganze für den größten Schwachsinn halte, der dir je eingefallen ist?«
»Nur ungefähr ein Dutzend Mal«, erwiderte Nathan ruhig. Durch das Telefon hörte er Matts Schnauben. Sein Freund hatte mehr als deutlich gemacht, wie wenig er davon hielt, diese Vorstellungsgespräche abzuhalten.
»Vertrau mir, Matt, es wird sich alles fügen. Sag einfach, was wir besprochen haben und sorg dafür, dass ich einen guten Blick auf die Bewerberinnen habe.«
»Ich denke immer noch, du solltest einfach endlich …«
»Nein«, unterbrach Nathan seinen alten Freund. Er war froh, dass sie nur über das Telefon miteinander sprachen. Seine Stimme war noch immer ruhig, doch seine freie Hand ballte sich zur Faust.
Er wusste genau, was Matt sagen wollte. Er sollte sich den Operationen unterziehen, die seine Narben auf ein kaum mehr wahrzunehmendes Minimum reduzieren würden. Noch einmal unter das Messer legen, noch einmal sein Leben und seinen Körper in die Hände der Ärzte begeben. Noch einmal wochenlang ohne Kontrolle über sich selbst, an ein Bett gefesselt, ständig auf Hilfe angewiesen. Niemals!
Er hatte die Narben als Teil seines neuen Lebens akzeptiert. Als Teil seines Gefängnisses. Die Ketten, die ihn hier festhielten und ihn täglich daran erinnerten, was er verloren hatte. Sie waren das Mahnmal an einen begangenen Fehler, das sich in seine Haut gebrannt hatte. Nathan hasste Fehler. Seine eigenen noch viel mehr als die, die andere verursachten. Und er wusste eines: Er konnte sich keine Fehler mehr leisten.
Emma wischte sich nun zum dritten Mal die Handflächen an ihrem Rock ab. Aus den Augenwinkeln sah sie das abschätzige Lächeln, dass ihr die Frau neben ihr zuwarf, als sie Emma musterte. Sie presste die Lippen zusammen und reckte das Kinn ein wenig höher. Ihr Kostüm entsprach vielleicht nicht der neuesten Mode, die Absätze ihrer High Heels waren nicht ganz so hoch wie die ihrer Nachbarin, ihr Rock bei weitem nicht so kurz – aber auch ihre Beine nicht ganz so lang. Emma biss sich auf die Innenseite ihrer Wangen.
Es ist schon ein Riesenglück, dass du hier bist , erinnerte sie sich immer wieder. Vor drei Tagen hatte sie online die Jobangebote durchstöbert und die Anzeige für diese Stelle gesehen. Persönliche Assistentin der Geschäftsleitung. Nicht, was sie gelernt hatte und sie konnte nur hoffen, dass man sie nach einem Blick in ihren Lebenslauf nicht sofort wieder wegschicken würde, aber sie musste es versuchen. Ihre Bewerbung war innerhalb einer Stunde abgeschickt gewesen und noch am gleichen Nachmittag hatte sie den heutigen Termin erhalten.
Ihre Hände zitterten und sie unterdrückte den Drang, sie erneut an dem Stoff ihres Rockes abzuwischen.
Die Tür auf der anderen Seite des Ganges öffnete sich und ein Mann trat heraus.
»Miss Dalton«, sagte er, ohne von seinem Klemmbrett aufzublicken. Emmas Nachbarin erhob sich und warf sich die langen, glänzenden Haare über die Schulter. Emma fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihr Haar zu einem Knoten zu binden. Wirkte sie dadurch zu streng? Sollte die Assistentin einer Geschäftsleitung streng wirken? Oder sollte sie besser kilometerlange Beine haben, die sie in zu kurzen Röcken und zu hohen Absätzen zur Schau trug?
Mit einem Seufzen verdrängte sie ihre negativen Gedanken. Sie brauchte diesen Job. Sie brauchte das Geld. Erneut wischte sie sich die Hände an ihrem schwarzen Rock ab.
Die Tür öffnete sich plötzlich und ihre ehemalige Sitznachbarin ging mit aufeinandergepressten Lippen und hochroten Wangen an ihr vorbei. Emma sah ihr überrascht nach. Der Mann erschien erneut in der Tür, sah wieder nur auf das Klemmbrett, während er Emmas Namen aufrief. Sie zwang sich ruhig zu bleiben und stand von ihrem Stuhl auf. Während sie dem Mann folgte, bemühte sie sich, ihren Herzschlag zu beruhigen.
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