Sein Sekretär bemühte sich offenkundig, seine Überraschung über diese Aussage nicht zu zeigen und ließ Nathan allein. Dieser griff zum Hörer und wählte die Nummer seines besten Freundes.
»Es tut mir leid, dass wir keine besseren Neuigkeiten für Sie haben, Miss Sullivan.«
Sie spürte Dr. Miles’ mitleidigen Blick auf sich, auch wenn sie es nicht schaffte, zu ihm aufzusehen. Zwei Monate, vielleicht drei, eher weniger. Emma konnte die Maschinen, an denen ihr Vater angeschlossen war, selbst hier auf dem Flur piepsen hören. Die Maschinen, die sie so sehr hasste und die ihren Vater doch am Leben hielten.
»Aber gibt es denn wirklich nichts, was Sie noch tun können? Die Medizin hat in den letzten Jahren doch Fortschritte gemacht und …« Sie hielt inne, kämpfte gegen die Tränen an, die als dicker Kloß in ihrem Hals brannten und schluckte sie mühsam herunter.
»Irgendetwas, Dr. Miles?« Als Emma zu ihm aufsah, nickte der Mediziner langsam. Seine Augen wanderten über die weiße Wand hinter ihr.
»Es gibt neue Forschungsergebnisse und Methoden, die sich in den letzten Testphasen befinden. Bisher liefern sie sehr positive Resultate, wobei man nie sagen kann, wie jeder einzelne Patient auf sie anspricht.«
»Aber?« Es lag wie eine düstere Wolke über seinen Worten. Dieses kleine Wort, das alles zerstören konnte.
»Aber die Behandlungskosten belaufen sich geschätzt auf eine halbe Million Pfund.«
Eine halbe Million. Fünfhunderttausend. Emma wurde schwindelig. Der Boden schien ihr unter den Füßen weggezogen. Sie hatten bereits den Buchladen verkauft, den ihre Familie seit Generationen führte, um die bisherigen Behandlungen bezahlen zu können. Der Verkauf hatte die Kosten gedeckt und es war auch noch ein wenig davon übrig, aber noch nicht einmal mehr fünfzigtausend, geschweige denn fünfhunderttausend Pfund.
»Deswegen wollte ich es gar nicht erst erwähnen. Es ist eine sehr teure und dennoch unsichere Behandlungsmethode und …«
»Wie viel länger könnte er damit leben?« Die Frage kam automatisch. Denken konnte sie im Moment gar nicht mehr. Sie starrte auf das Namensschild an Dr. Miles weißem Kittel, während ihr Verstand auf Hochtouren lief, um zu rechnen, jeden Penny umzudrehen, den sie irgendwo vermutete.
»Miss Sullivan, wie gesagt, es gibt positive Ergebnisse, aber keine absolute Garantie …«
»Wie lange?«
Dr. Miles seufzte. »Die Probanden, die positiv auf die Behandlung reagierten, befinden sich derzeit auf dem Weg der Besserung. Die ersten Tests wurden vor etwa drei Jahren durchgeführt und diese Patienten zeigen eine Stärkung ihres Körpers, was ihre Ärzte dazu veranlasst, ihnen eine beinahe normale Lebenserwartung zu versichern.«
»Beinahe normal?«
»Nun, wir reden hier nicht über eine Erkältung. Die Organe dieser Patienten, allen voran das Herz, haben gelitten. Aber ihre Lebenserwartung beträgt derzeit etwa siebzig bis fünfundsiebzig Jahre, bei einem derzeitigen Alter von durchschnittlich sechzig.«
Ihr Vater war neunundfünfzig. Emma nickte langsam, rechnete erneut alles durch. Sie hatte das Geld nicht. Nicht einmal annähernd.
»Gut«, flüsterte sie. »Ich werde das Geld irgendwie beschaffen.«
»Miss Sullivan …«
Sie sah zu ihm auf, kümmerte sich nicht darum, dass die Tränen längst über den Kloß in ihrem Hals hinausgewachsen waren und in ihren Augen standen. »Tun Sie, was Sie können, um meinem Vater zu helfen. Ich werde es auf den letzten Penny bezahlen, das schwöre ich!«
Dr. Miles sah so aus, als wollte er ihr noch einmal widersprechen. Stattdessen schüttelte er langsam den Kopf.
»Ich suche die Unterlagen zusammen und gebe sie Ihnen und Ihrem Vater noch einmal zum genauen Durchlesen. Vorher sollten Sie keine Entscheidung treffen.«
Emma biss die Zähne aufeinander. Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Ihr Vater würde nicht sterben, durfte nicht sterben. Reichte es denn nicht, dass ihre Mutter bereits diesem verdammten Krebs zum Opfer gefallen war? Sollte sie jetzt wirklich noch ihren Vater daran verlieren müssen? Nein, das würde sie nicht zulassen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, vergrub sie jedoch in den Taschen ihrer Strickjacke. Sollte Dr. Miles noch ein wenig daran glauben, dass er sie umstimmen könnte.
Der Arzt verabschiedete sich fürs Erste von ihr und Emma kehrte ins Krankenzimmer ihres Vaters zurück. John lächelte sie müde an, als sie sich neben seinem Bett auf einen Stuhl setzte und seine Hand ergriff.
»Na, welche Hiobsbotschaften hat der Arzt dir heute verkündet?«
»Keine Hiobsbotschaften«, log Emma. John schüttelte leicht den Kopf und hob seine freie Hand, um sie über Emmas Wange streichen zu lassen.
»Du bist eine schlechte Lügnerin, meine Kleine. Seit man mich hier eingeliefert hat, behandelt man mich wie ein kleines Kind. Nicht einmal über meinen Zustand will man mich informieren. Ich weiß, was das bedeutet.«
»Das bedeutet, dass es nichts gibt, worüber du dir Sorgen machen musst, Dad. Es wird alles wieder gut. Dr. Miles hat mir von einer neuen Behandlungsmethode erzählt.«
Emma bemühte sich, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen und schwärmte ihrem Vater von den Erfolgen der Behandlung vor. John lächelte nur und hörte ihr zu, während sie ihre Luftschlösser baute. Als sie Luft holte, tätschelte er ihre Hand.
»Ich wünschte mir, wenigstens du würdest mich nicht wie ein Kind behandeln, meine Kleine. Sag mir ehrlich, wie schlimm es um mich steht.«
Dr. Miles klopfte an den Türrahmen und hielt eine weiße Mappe mit blauen Mustern in den Händen.
»Die Unterlagen, von denen ich Ihnen erzählte, Miss Sullivan. Wie gesagt, Sie sollten sich diese beide gründlich durchlesen, ehe Sie irgendeine Entscheidung treffen. Wir können nächste Woche noch einmal darüber reden.«
Emma stand hastig auf und ging auf Dr. Miles zu, um ihm die Unterlagen aus der Hand zu nehmen. Mit einem breiten Lächeln kehrte sie zu ihrem Vater zurück.
»Siehst du, Dad? Ich sagte doch, es gibt eine neue Behandlungsmethode. Ich nehme mir die Unterlagen heute mit und lese sie zuhause und bringe sie dir gleich morgen wieder mit.« Sobald sie alles, was auf den Preis der Behandlung hinwies, aus den Unterlagen vernichtet hatte. Ihr Vater brauchte seine Kraft, um gegen den Krebs zu kämpfen, er sollte sie nicht darauf verschwenden, wie sie das Geld auftreiben würde, das ihm sein Leben zurückgeben würde. Wenn sie mehr sparte, in eine kleinere Wohnung ziehen würde … und sie musste sich ohnehin einen Job suchen, nachdem sie den Buchladen verkauft hatten. Wieso dann nicht gleich zwei oder auch drei. Sie wäre nicht die erste, die sich in diesen Zeiten die Nächte mit einem Zweit- oder Drittjob um die Ohren schlug. Irgendwie würde sie das Geld zusammenbekommen. Sie musste Dr. Miles nur davon überzeugen, dass sie die Behandlungskosten abstottern durfte.
In ihrem Kopf formte sich langsam ein Plan. Ein Bild ihrer Zukunft und sie war überzeugt davon, es zu schaffen. Gleich heute Abend, wenn sie nach Hause kam, würde sie im Internet und in der Zeitung die Stellenanzeigen durchgehen.
Nathan presste Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf seine Nasenwurzel und atmete tief durch. Matthew war von seiner Idee alles andere als begeistert gewesen. Nur widerwillig hatte er sich darauf eingelassen, die Bewerbungsgespräche für Nathan zu führen. Dabei hatte Nathan erwartet, dass Matthew ihn verstehen würde. Oder zumindest seine Beweggründe. Doch stattdessen hatte er ihm versucht klar zu machen, dass sein Plan, nicht nur einen Ersatz für Theodore zu suchen, sondern diesen mit seinem in letzter Zeit viel zu kurz gekommenen Sexleben zu verbinden, Matthews Meinung nach an Wahnsinn grenzte.
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