Aber als der Pastor eine Tür auf- und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
Dort auf dem obersten Gang schlurft ihnen eine Wärterin entgegen und sagt: »Jetzt nachts um elf Uhr vierzig bringen Sie erst die Hergesell zurück, Herr Pastor? Wo waren Sie denn so lange mit ihr?«
»Sie war viele Stunden ohnmächtig. Ihr Mann ist gestorben, wissen Sie.«
»So – und da haben Sie die junge Frau also getröstet, Herr Pastor? Sehr hübsch! Die Frau Hänsel hat mir erzählt, sie soll Ihnen ganz schamlos immer gleich um den Hals fallen. Da muss solch nächtliches Trösten besonders hübsch sein! Ich werde das ins Wachtbuch schreiben!«
Aber ehe der Pastor sich noch mit einem Wort gegen diese Schmutzerei hat zur Wehr setzen können, sehen sie beide, dass Frau Trudel, verwitwete Hergesell, über das Eisengitter des Ganges geklettert ist. Einen Augenblick steht sie da, hält sich noch mit einer Hand am Geländer fest, mit dem Rücken zu ihnen.
Und sie rufen: »Halt! Nein! Bitte nicht!«
Und sie stürzen zu ihr hin, die Hände greifen schon nach ihr.
Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung machen will, hat sich Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los.
Es ist, als sei’s durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen ist. Erst ist es vielleicht nur ein hysterischer Schrei gewesen, aber er lief weiter von Zelle zu Zelle und von Station zu Station, von der einen Gangseite zur anderen, über den Abgrund fort.
Und während er weiterlief, wurde aus dem einen Schrei ein Brüllen, Heulen, Zetern, Keifen, Toben.
»Ihr Mörder! Ihr habt sie umgebracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Henker!«
Und es gab welche, die hingen sich an die Fenster und schrien es auf die Höfe, sodass auch die Männerflügel aus ihrem angstdünnen Schlaf erwachten, und es tobte, es schrie, es geiferte, es plärrte, es grunzte, es verzweifelte.
Es klagte an, es klagte an mit tausend, mit zweitausend, mit dreitausend Stimmen, schrie das Tier seine Anklage aus tausend, zweitausend, dreitausend Mäulern.
Und die Alarmglocke schrillte, und sie trommelten mit den Fäusten gegen die Eisentüren, mit den Schemeln rannten sie dagegen an. Die Eisenbetten fielen, knallend in ihren Scharnieren, und wurden wieder hochgerissen und knallten neu. Scheppernd fuhren die Essschüsseln auf dem Boden herum, die Kübeldeckel lärmten, und das ganze Haus, dieses Riesengefängnis, stank plötzlich wie eine verhundertfachte Latrine.
Und die Bereitschaften fuhren in ihre Kleider und griffen nach ihren Gummiknütteln.
Und Zellentüren wurden aufgeschlossen: Knackknack!
Und der klatschend dumpfe Laut von Gummiknütteln auf die Schädel hernieder wurde laut und das Gebrüll wütender, vermischt mit dem Gescharr kämpfender Füße, und die hohen, tierhaften Schreie der Epileptiker und das Juhu-Gejodel idiotischer Spaßmacher und die gellenden Ludenpfiffe …
Und Wasser klatschte in die Gesichter der eindringenden Aufseher.
Und in der Leichenkammer lag Karli Hergesell ganz still mit einem kindhaft kleinen, friedlichen Gesicht.
Und all das war eine wilde, panische, grausige Symphonie, gespielt zu Ehren Trudels, verwitwete Hergesell, geborene Baumann.
Aber sie lag unten, halb auf dem Linoleum, halb auf dem schmutziggrauen Zementboden der unteren Station I.
Sie lag da ganz still, ihre kleine graue Hand, die noch so viel Mädchenhaftes hatte, war leicht geöffnet. Ihre Lippen waren von ein wenig Blut gefärbt, ihre Augen sahen blicklos in eine unbekannte Gegend.
Aber ihre Ohren schienen auf den tosenden, auf- und abschwellenden Höllenlärm zu lauschen, und ihre Stirn war gefaltet, als grübele sie darüber nach, ob dieses wohl der Friede sei, den ihr der gute Pastor Lorenz versprochen.
In Verfolg aber dieses Selbstmordes wurde der Gefängnisgeistliche Friedrich Lorenz von seinem Amte suspendiert, und nicht der versoffene Arzt. Ein Verfahren wurde gegen den Geistlichen eröffnet. Denn es ist ein Verbrechen und die Begünstigung eines Verbrechens, wenn einem Gefangenen gestattet wird, selbst sein Lebensende zu bestimmen: dazu sind allein der Staat und seine Diener berechtigt.
Wenn ein Kriminalbeamter einen Mann mit seinem Pistolenkolben so verletzt, dass er sterbenskrank wird, und wenn ein betrunkener Arzt den Verletzten sterben lässt, so ist das alles in Ordnung. Aber wenn ein Geistlicher einen Selbstmord nicht verhindert, wenn er einem Gefangenen, der keinen eigenen Willen mehr haben darf, den eigenen Willen lässt, so hat er ein Verbrechen begangen und muss dafür büßen.
Leider entzog sich Pastor Friedrich Lorenz – genau wie diese Hergesell – der Sühne seines Verbrechens, indem er an einem Blutsturz starb, grade in dem Augenblick, als er verhaftet werden sollte. Es war nämlich auch der Verdacht aufgetaucht, dass er unsittliche Beziehungen zu seinen Betreuten unterhielt. Er aber hatte den Frieden, wie er selbst gesagt hätte, ihm blieb viel erspart.
Aber so kam es, dass Frau Anna Quangel bis zur Hauptverhandlung nichts von dem Tode von Trudel und Karl Hergesell erfuhr, denn der Nachfolger des guten Pastors war zu ängstlich oder unwillig, Botengänge unter den Gefangenen zu übernehmen. Er beschränkte sich strikte auf die Seelsorge, da, wo sie gewünscht wurde.
61. Die Hauptverhandlung: Ein Wiedersehen
Auch bei dem raffiniertest ausgeklügelten System können Fehler vorkommen. Der Volksgerichtshof zu Berlin, ein Gerichtshof, der nichts mit dem Volke zu tun hatte und zu dem das Volk nicht einmal als stummer Zuschauer zugelassen war, denn seine meisten Sitzungen waren geheim – dieser Volksgerichtshof war so ein raffiniert ausgeklügeltes System: ehe der Angeklagte noch den Verhandlungssaal betreten hatte, war er praktisch schon verurteilt, und nichts schien es zu geben, das dafür sprach, dass ein Angeklagter in diesem Saale etwas Erfreuliches erleben könnte.
An diesem Morgen stand nur eine kleine Sache an: gegen Otto und Anna Quangel wegen Landes- und Hochverrats. Der Zuhörerraum war kaum zu einem Viertel gefüllt: ein paar Parteiuniformen, einige Juristen, die aus unerforschlichen Gründen dieser Verhandlung beizuwohnen wünschten, und in der Hauptsache Studenten der Jurisprudenz, die lernen wollten, wie die Justiz Menschen aus der Welt schafft, deren Verbrechen darin bestand, ihr Vaterland mehr geliebt zu haben, als es die verurteilenden Richter taten. Alle diese Leute hatten nur durch »Beziehungen« Eintrittskarten bekommen. Woher der kleine Mann mit dem weißen Spitzbärtchen und den von klugen Fältchen umgebenen Augen, woher also der Kammergerichtsrat a.D. Fromm seine Karte bezogen hatte, bleibt unbekannt. Er saß jedenfalls unauffällig zwischen den anderen, in einem kleinen Abstand von ihnen, das Gesicht gesenkt und häufig seine goldgefasste Brille putzend.
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