Mit einem Ruck öffnete sie die Augen. «Tritt näher, Amenthes von Alexandrien.» Ihr Mund brachte die Worte hervor, ohne dass sie es befahl.
Amenthes näherte sich.
Den Kopf unter ihrem weißen Schleier geneigt blickte Aristea ins Wasser. Kleine Wellen gingen in konzentrischen Kreisen von einer Störung in dessen Mitte aus. Sie spürte, wie die Schüssel sachte in ihren Händen vibrierte.
«Es gibt zwei Arten von Männern. Jene, die mit dem Herzen glauben, und jene, die ihre Wahrheit laut verkünden. Beide werden das Haus betreten, das Ptolemaios gebaut hat, aber nur einer wird wieder herauskommen. Und die Gerechtigkeit wird siegreich zwischen den Ruinen stehen und die Tracht der Trauernden tragen.»
«Das Haus, das Ptolemaios gebaut hat», wiederholte der Ägypter. «Das Serapeum?»
«Das Orakel hat gesprochen», sagte der Priester. «Eure Bürde ist es, ihre Worte zu verstehen und Euer Schicksal zu meistern. Nun geht in Frieden.»
Aristea hörte das Schlurfen von Füßen und das Rascheln von Stoff, als der alexandrinische Gesandte das Adyton verließ. Sie hatte seinen Namen im Buch der Seelen gesehen. Er würde den Winter nicht überleben.
Und so war es geschehen. Aristea spritzte sich Wasser aus der Kastalischen Quelle ins Gesicht. Da es gerade mit der Schneeschmelze von den Steilhängen des Parnass kam, war es eiskalt. Es erfrischte sie, konnte die Erinnerung aber nicht fortwaschen.
Im vergangenen Winter hatte die Nachricht Delphi erreicht, dass Theodosius' Armeen mit dem Segen des alexandrinischen Bischofs den Dionysos-Tempel im Schutz der Nacht geplündert hatten. Sie hatten die Opferaltare in Brand gesteckt und die heiligen Hallen mit ihrem Schmutz entweiht.
Heidnische Gläubige, die seit Beginn des ägyptischen Staates unabhängig gewesen waren, strömten auf die Straßen, um ihre Empörung auszudrücken, und Christen stellten sich ihnen entgegen. Die Kämpfe dauerten zwei Tage an und forderten Verluste auf beiden Seiten, bis Theodosius' Armeen mit ihren Waffen einfielen und den Bürgerstreit in einen Krieg verwandelten.
Die Heiden zogen sich ins Serapeum zurück und nahmen christliche Gefangene mit. Aber ihre Barrikaden hielten nicht stand. Mit großen Rundhölzern brachen die kaiserlichen Armeen die Türen auf, betraten den Tempel mit ihren Speeren und Schleudern und erstachen und steinigten die Gläubigen, bis niemand mehr übrig war.
Das Blut befleckte den Marmor so unauslöschlich, dass nicht einmal die Täter es ansehen konnten. Sie zerstörten den Tempel und warfen seine blutigen Trümmer ins Meer. Das Serapeum, Ptolemaios' sagenumwobenes Kunstwerk, war zerstört.
Es war das erste Mal gewesen, dass Aristea ein Massaker vorhergesagt hatte. Aber sie vermutete, es würde nicht das letzte Mal sein.
Sarah kannte die Stimme des Mannes, kannte den Geruch seiner Haut. Ihr Körper entspannte sich, ein Signal, dass sie seiner Anweisung Folge leisten würde. Er ließ sie los.
Von der Vorderseite des Gebäudes her ertönte ein Grunzen. «Ich kann es nicht glauben. Er muss mir den falschen Code gegeben haben.»
«Ich sage, es ist ein Benutzerfehler. Lass mich …»
Ein Alarm heulte auf. Das schrille Geräusch, das Sarah noch nie zuvor gehört hatte, kam vom Gebäude.
«Idiot. Jetzt hast du's geschafft.»
«Lass uns verschwinden.»
«Was ist mit dem Pfahl?»
«Vergiss ihn. Lauf!»
Als das schmatzende Geräusch panischer Schritte im Schlamm leiser wurde, drehte sich Sarah zu Daniel um. Er drückte auf eine Fernbedienung, um einen tragbaren Alarm abzustellen, hob eine Hand, um ihr zu bedeuten, zu warten, und spähte um die Ecke.
«In Ordnung. Sie sind weg.»
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. «Warum hast du sie davonkommen lassen? Sie gehören hinter Gitter.»
«Ich hatte nicht vor, sie laufen zu lassen.» Er presste die Lippen aufeinander. «Es gab eine Komplikation.»
«Du meinst doch nicht …» Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, dass sie seinen Plan vereitelt hatte, wie immer der auch ausgesehen hatte. Sie schnaufte.
«Ich wollte nicht, dass du verletzt wirst, Sarah. Die waren bewaffnet.»
«Wenn du mir erzählen würdest, was los ist, dann könnten wir vielleicht solche Komplikationen vermeiden.» Ihre letzten Worte waren voller Verachtung.
Er atmete hörbar aus. «Es ist extrem kompliziert.»
Sie starrte ihn an. Sie kannte ihren Partner so gut, dass sie die feinen Veränderungen in seinem Blick lesen konnte. Seine übliche, gelassene Zuversicht hatte sich in Unbehagen verwandelt.
«Ich hab die ganze Nacht Zeit.» Sie nickte in Richtung des Gebäudes. «Sollen wir?»
Er gab den richtigen Code ein und die Verrieglung öffnete sich mit einem leisen Klicken. Er hielt Sarah die Tür auf, trat dann nach ihr ein und schloss die Tür wieder. Er hielt sich nicht mit dem Licht auf.
Ein Strahl fahlen Mondlichts fiel durch die schmalen Obergadenfenster oben am Gebäude und warf einen übernatürlichen Schimmer auf die Gegenstände, die in Forschungswannen und auf Untersuchungstischen lagen. Sarah verschränkte die Arme. «Evan sagte, du warst in Athen. Warum?»
«Der Stiftungsleiter hat ein Meeting einberufen», antwortete er.
«Mitten in der Nacht? Komm schon, Danny.»
«Männer wie er sind immer in Bewegung. Er war im Mittleren Osten und hatte letzte Nacht auf dem Weg nach London einen Zwischenstopp in Athen. Mach nicht mehr daraus, als es ist.»
«In Ordnung. Worum ging es in dem Meeting?»
Er zögerte, und Sarah wusste, dass er seine Antwort abschätzte. Es sah Daniel Madigan nicht ähnlich, ausweichend zu sein. Er war ein ehrlicher Kerl ohne Rücksicht auf Konventionen oder politische Korrektheit. Nur ein Mal hatte sie gesehen, dass er sich so verhielt: Als er versucht hatte, sie vor etwas zu beschützen.
«Sie sind wegen der Diebstahlserie rund um Griechenland beunruhigt», sagte er. «Sie wollen, dass ich Augen und Ohren vor Ort für sie offenhalte. Das ist alles.»
«Das ist alles.» Sie war sich der Ironie in ihrer Stimme bewusst. «Tja, du kannst deinen Stiftungsfreunden folgendes sagen: Wer immer gestern und heute hier war, hat nichts mit diesen anderen Diebstählen zu tun. Diese Kerle sind hinter etwas Bestimmtem her. Einem Messingpfahl, der wie ein Obelisk geformt ist.»
Er wich ihrem Blick aus.
Auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte. «Aber das wusstest du wahrscheinlich.»
Er nickte schwach und schob seine Hände in die Taschen seiner ausgewaschenen, abgetragenen Jeans. Seine Muskeln verspannten sich unter seinem engen, schwarzen T-Shirt.
Sie trat auf ihn zu. «Was ist er? Warum sind sie hinter ihm her?»
«Ich weiß es nicht.» Daniel seufzte. «Das ist die Wahrheit.»
«Was, wenn ich dir helfe, es rauszufinden?»
Daniel zwang sich zu einem Lächeln und die Falten um seine Augen wurden tiefer. Seine schulterlangen, mahagonifarbenen Locken waren windzerzaust und so durcheinander, als hätte er sich seit Tagen nicht um sie gekümmert. Er sah müde aus, älter als seine dreiundvierzig Jahre. Obwohl sie wusste, dass er etwas vor ihr geheim hielt, spürte Sarah, dass sein ausweichendes Verhalten nicht feindselig war; er steckte in irgendwelchen Schwierigkeiten. Ob er es aussprach oder nicht, sie wusste, dass er sie brauchte.
Sie tätschelte seinen Arm. «Du siehst aus, als könntest du ein wenig Schlaf vertragen. Wir können uns das Ganze morgen mit frischem Blick ansehen.»
«Danke.» Er umarmte sie sanft, löste sich aber schnell. «Danke für dein Verständnis.»
Sie verstand gar nichts. Aber sie war dazu entschlossen, zu verstehen.
Obwohl er seit über vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf war, hatte Daniel nicht die Absicht, sich auszuruhen. Er sah auf seine Uhr: Viertel vor fünf am Morgen. Ihm graute vor dem Anruf, den er machen musste.
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