Jenseits des Hügels tauchten winzige graue Punkte wie Pinselstriche in einer pointillistischen Landschaft auf. Im Tal erstreckte sich die Stadt Theben, eine willkürliche Ansammlung winziger rotgedeckter Häuser und monolithischer weißer Gebäude, zwischen denen sich einzelne Flecken von Grün zeigten. Es fiel schwer, die unscheinbare moderne Stadt mit dem thebanischen Machtzentrum der Antike in Einklang zu bringen. In diesem Tal und der Zitadelle, die sich darüber erhob, waren die Todfeinde des antiken Thebens, die Athener, dem Erdboden gleichgemacht und die schicksalhafte Allianz mit Xerxes' Persern geschmiedet worden. Und hier hatte die Hybris zum Niedergang geführt, als die heilige Schar Thebens den mit Langspeeren bewaffneten Armeen Alexanders des Großen haushoch unterlag.
Sarah hatte immer Trost darin gefunden, auf den Spuren von antiken Weisen und Narren, Kriegern und Poeten, großen Anführern und niederträchtigen Verrätern zu wandeln: Den Männern, welche mit ihrem Blut oder ihrer Zunge die westliche Zivilisation geformt hatten. Doch in diesem Moment entzog sich ihr ein solcher Trost, wie Wasser durch ein Sieb rinnt.
Aus dem Zwielicht erschien eine gebeugte Gestalt. Sarah dachte, es sei Daniel und stand auf. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung, als sie erkannte, dass Evan auf sie zukam. Die Hände hatte er in seine Taschen geschoben und sein Kopf war geneigt, als würde er sich vor einer stürmischen Bö schützen.
Sie steckte das Amulett in ihre Tasche zurück und kam ihm auf halbem Weg entgegen. «Gibt es etwas Neues?»
Evans angespannte Züge passten zu seiner schützenden Haltung. «Nicht viel. Da nichts gestohlen wurde, schließen sie diesen Teil des Falls ab. Den Mord untersuchen sie weiter, aber das könnte Jahre dauern. Die Polizei hier ist ein Witz.»
«Wie können Sie sicher sein, dass nichts aus den Archiven gestohlen wurde?»
Er zuckte mit den Schultern. «Selbst wenn, kümmert das die Polizei nicht. Antiquitäten fehlen keine; das ist das Wichtigste.»
«Die sind vielleicht nicht beunruhigt, aber wir sollten es sein. Sie haben doch sicher Inventur gemacht. Sie sollten wissen, ob Akten fehlen.»
Mit offensichtlichem Unbehagen wandte er den Blick ab.
«Evan.» Sie wartete, bis er sie wieder ansah. «Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich es nicht weiß.»
Er zögerte. Etwas an der Art wie er ihr Gesicht studierte, sagte ihr, dass er sich seine Antwort zurechtlegte. «Na schön. Sie haben die Verzeichnisse über die derzeitig gelagerten Artefakte mitgenommen.»
«Glauben Sie, die sind hinter einem Objekt aus dem Tresor her?»
«Das bezweifle ich. Wahrscheinlich klopfen Sie nur auf den Busch, um zu sehen, was wir haben. Diese Kleinkriminellen tun das ständig.»
Sarah starrte Evan an. War er wirklich so naiv – oder spielte er ihr das nur vor? «Ist der Messingpfahl im Tresor?»
«Ja. Der und hundert andere Gegenstände, die wir untersuchen.»
«Kann ich einen Blick darauf werfen?»
Evan zuckte mit den Schultern. «Wie Sie wollen. Ich werde etwa in einer Stunde im Labor sein. Dann können Sie vorbeikommen.» Er spähte zum Himmel. Dunkle Wolken drängten sich am westlichen Horizont. «Sieht ohnehin nach Regen aus.»
Sarah nickte. «Ich werde da sein.»
Er ging weg, blieb dann aber stehen und drehte sich wieder zu ihr um. «Wegen Daniel … er verhält sich merkwürdig, oder?»
«Was meinen Sie?»
«Neulich habe ich zufällig mitangehört, wie er am Telefon mit jemandem darüber sprach, in den Mittleren Osten zurückzukehren.» Er zuckte mit den Schultern. «Na ja, Sie wissen wahrscheinlich davon.»
Sie verspürte ein vertrautes, brennendes Gefühl im Bauch. Ängste, die sie vergraben geglaubt hatte, kämpften sich an die Oberfläche zurück.
Eine kühle Brise, Vorbote des Sturms, pfiff durch die Olivenbaumblätter. Evan schlug seinen Kragen nach oben, schob seine Hände zurück in die Manteltaschen und verschwand im aufziehenden Nebel.
Die grünen LED-Ziffern des Weckers zeigten 02:20 Uhr. Sarah rollte sich auf den Rücken und starrte auf den abbröckelnden Putz an der Decke. Wie Najaden durch die Bäche der Antike schwammen, zogen Gedanken durch ihren Geist und hielten sie wach.
Den Nachmittag hatte sie im Labor damit verbracht, den Messingpfahl und andere im Tresorraum gelagerte Artefakte zu untersuchen. Von Evan hatte sie Informationen über alle Gegenstände gefordert, aber er konnte nur das ursprüngliche Protokoll vorlegen. Sämtliche anderen Unterlagen waren aus dem Archiv gestohlen worden.
Dem Protokoll nach war der obeliskförmige Pfahl ein Zufallsfund aus dem Quellgebiet des Flusses Herkyna in der Nähe der Stadt Livadia. Er war der Ephorie etwa vor einem Jahr übergeben worden und wurde noch immer untersucht.
Aber es gab noch einen anderen interessanten Gegenstand. Ein anthropomorphes Rhyton in der Form eines Wolfskopfes. Wie über den Obelisken, so besaßen sie auch über das zeremonielle Trinkgefäß, das nach dem späten fünften oder frühen vierten Jahrhundert vor Christus aussah, nur wenige Informationen. Anscheinend war es während des Baus einer Kirche in Chaironea, einer Siedlung außerhalb von Livadia, ausgegraben worden. Man hatte es zerbrochen vorgefunden, und es war teilweise rekonstruiert worden.
Eine Verbindung zwischen den beiden Gegenständen schien nicht wahrscheinlich, aber beide unterschieden sich erheblich von allem anderen, was im Museum oder im Lager ausgestellt war. Und sie waren sehr nah beieinander gefunden worden. Dieser Grund war so gut wie jeder andere, um dort mit ihren Nachforschungen zu beginnen.
Sarah zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken – zumindest für den Moment. Sie brauchte Schlaf. Sie stand aus dem Bett auf und ging durch den dunklen Raum, um sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen. Während der Wasserkessel heiß wurde, starrte sie aus dem Fenster. Das weiche, blaugraue Licht des zunehmenden Halbmonds konturierte das Kronendach des Wäldchens wie mit einem Heiligenschein. Eine starke Brise rüttelte an den Blättern eines Kastanienbaums vor ihrem Fenster. Dann war alles wieder still.
Der Kessel pfiff. Während sie heißes Wasser über eine Handvoll getrockneter Kamillenblüten goss, bemerkte sie einen Lichtblitz am Rand ihres Blickfelds. Sie stellte sich an die Fensterkante und betrachtete die verdunkelte Landschaft. Wieder sah sie es: Ein winziger Strahl weißen Lichts, der hin und her huschte, als ob jemand nach etwas suchte. Bald darauf verschwand er wieder.
Wer immer dort war, wollte nicht gesehen werden.
Sie beobachtete, wie das Licht stoßweise an und aus ging, während es ostwärts über den Hang wanderte. Als sie realisierte, wohin es steuerte, hielt sie den Atem an.
Sie warf sich den Mantel über und schlüpfte zur Tür hinaus. Barfuß schlich sie durch das Dickicht aus Oliven- und Kastanienbäumen und hielt sich hinter deren uralten Stämmen versteckt.
Das Labor war hundertachtzig Meter von der Wohnanlage der Mitarbeiter entfernt, ein einsames Gebäude inmitten eines Wäldchens. Es war mit einem Zahlenschloss und einer Alarmanlage gesichert, aber es war unbewacht. Angesichts der Vorkommnisse letzte Nacht hatte Sarah guten Grund zur Annahme, dass dieser kleine Ausflug vor Anbruch der Dämmerung keine Dienstsache war.
Außer ihrem eigenen an- und abschwellenden Atem hörte Sarah nichts, während sie sich dem Gebäude von Süden her näherte. Das Licht wurde größer und heller, eine profane Erscheinung in der Totenstille der Nacht. Die Eindringlinge waren fast angekommen.
Ihr Fuß sank in den kalten Schlamm des noch immer feuchten Bodens. Sie wollte schneller gehen, aber die freiliegenden Wurzeln, die sich wie knorrige Finger von den Bäumen erstreckten, forderten ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ein Fehltritt könnte sie verlangsamen und, schlimmer, ihre Position verraten.
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