Die Papiere sah sie zuerst. Jeder Behälter war umgedreht worden, der Inhalt über den Boden verstreut, auf Regalen, einem Arbeitstisch. Der Raum war durchsucht worden.
Hinter einem Stapel leerer Kisten entdeckte sie ein Paar Füße. Sarahs Gesicht wurde heiß, als Adrenalin sie durchflutete. Sie übertrat das durchhängende Absperrband gerade so weit, dass sie einen besseren Blick bekam, ohne den Tatort zu verunreinigen.
Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Der Nachtwächter lag reglos in einer Ecke. Seine Hände waren mit einem Computerkabel gefesselt und sein Mund mit schwarzem Klebeband verschlossen. Sein Gesicht war übel zugerichtet und blutbeschmiert. Ein langer, wunder Streifen verlief über seinen Hals, als ob jemand versucht hätte, ihn zu strangulieren.
Sie spürte eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen.
«Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.»
Erleichtert, Evan zu sehen, stieß sie hörbar den Atem aus. «Ist schon in Ordnung. Möchten Sie mir erklären, was los ist?»
«Man hat mir gesagt, dass ich das tun muss.»
Sarah überging seine abfällige Bemerkung.
«Es gab einen Einbruch mitten in der Nacht.» Obwohl sein Englisch fehlerfrei war, kam sein griechischer Akzent im gerollten R zum Ausdruck.
«Wer ist der Wachmann? Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.»
«Er war neu. Nicht mal eine Woche im Dienst.» Evan betrachtete den Tatort. «Sieht aus, als hätte er sich ordentlich zur Wehr gesetzt.»
Sarah wurde übel. In ihren zwölf Jahren als Archäologin hatte sie viele Fälle von Antiquitätendiebstahl und Gewalt gesehen – und es wurde niemals einfacher, diese zu verarbeiten. «Das verstehe ich nicht. Ist der Alarm nicht losgegangen?»
«Ist er, aber niemand hat ihn gehört. Zumindest nicht rechtzeitig.» Er zuckte mit den Schultern. «Seit den Budgetkürzungen sind wir gezwungen, ohne Überwachung auszukommen.»
Sarah verzog das Gesicht zum äußerlichen Ausdruck ihrer Verachtung für die Kurzsichtigkeit der Regierung. Ihr war sehr wohl bewusst, dass das Kultusministerium unter der Wirtschaftskrise gelitten hatte, aber beim Schutz seiner Nationalschätze zu versagen war nichts anderes als kriminell – besonders im Hinblick auf all die Opportunisten, die wie die Geier ihre Kreise zogen und auf den richtigen Moment warteten, um zuzuschlagen.
«Wie konnte die Polizei dann wissen, dass sie herkommen musste?»
«Ich habe sie angerufen.» Er schob seine runde, schwarz umrandete Brille auf seinem Nasenrücken nach oben. «Ich war auf dem Weg zum Labor, um einen Bericht zu beenden, als ich den Alarm hörte. Ich bin sofort zum Museum gerast, aber es war schon zu spät.»
Sarah erinnerte sich an den zerbrochenen Schaukasten. «Was wurde gestohlen?»
«Tatsächlich nichts. Der Gegenstand war weggebracht worden.»
«Weggebracht … wohin?»
Evan war einen Moment lang still. Er wandte sich ihr zu. Seine tief liegenden Augen wurden von seinen dichten, schwarzen Brauen verdunkelt. «Hören Sie, ich muss gehen. Die Polizei hat noch weitere Fragen.»
«Evan, warten Sie.» Ihr Tonfall war schärfer, als sie es beabsichtigte. «Wo ist Daniel?»
«Er musste nach Athen gehen.»
«Athen?» Sie verspannte sich. «Wozu?»
«Ich kann jetzt nicht reden. Sie warten auf mich.»
Sarah beobachtete, wie Evan auf die Polizisten zuging, und fragte sich, was er ihr verschwieg. Sie dachte darüber nach, wie abenteuerlich es war, dass Daniel mitten in der Nacht nach Athen aufbrach. Was konnte so dringend sein? Und warum hatte er sie nicht informiert? Etwas stimmte nicht.
Aufgrund des Läutens ihrer inneren Alarmglocken fühlte sie sich leicht benommen. Abwesend blickte sie zum verwüsteten Lagerraum und der reglosen Gestalt eines Mannes, der ein paar Stunden zuvor noch äußerst lebendig gewesen war. Ihre Gedanken rasten durch Erinnerungen ihrer jüngsten Vergangenheit: Ein Mönch, erstochen, weil er ein uraltes Geheimnis bewahrte; ein Stammeskrieger, durchbohrt als Opfer eines Wahnsinnigen auf der Suche nach einem biblischen Schatz; ihr Vater, als Geisel gehalten und beinahe getötet. Sie rieb sich die Augen, um die ungebetenen Visionen der Gewalt abzuschütteln, die ihre Arbeitseinsätze heimzusuchen schienen und ihr die Freude an den archäologischen Entdeckungen verdarben.
Sie entschied sich, nicht zu bleiben. Als sie durch den Korridor auf den Ausgang zuging, bemerkte sie winzige rote Tröpfchen auf dem Boden zwischen den Glasscherben. Sie folgte der Spur durch den Flur und zur Haupteingangstür. Nahe der Schwelle zeigte ein schlammiger, blutgefärbter Fußabdruck in Richtung des Gebäudes. Obwohl der Abdruck schwach war, konnte sie das Fischgrätmuster der Sohle ausmachen.
Sarah drückte die Tür langsam auf und betrachtete den Vorhof, entdeckte aber nichts. Alle weiteren Spuren des Eindringlings mussten vom Regen davongespült worden sein. Sie ging an den Polizisten vorbei und verließ den Tatort. Am Rand des Museumskomplexes blieb sie für einen Moment stehen und blickte zum schieferfarbenen Himmel, der die Stunde vor Tagesanbruch verkündete.
Mit der Absicht, Daniel anzurufen, griff sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Als sie nach unten blickte, bemerkte sie etwas Sonderbares. Ein kleiner, an einem schwarzen Lederband befestigter Gegenstand lag halb im Schlamm vergraben. Sie sah hinter sich zu den Wachen; sie rauchten und lachten noch immer.
Sie hockte sich hin, um den Gegenstand genauer zu betrachten. Mit der Hand schob sie die nasse Erde beiseite und ein Anhänger aus Marmor kam zum Vorschein, oder vielleicht ein Amulett. Der untere Rand war gezackt und scharfkantig, als fehlte ein Teil, und das Lederband war sauber durchgerissen. Sie hob den Gegenstand auf. Ein kurzer Blick auf Äderung und Kolorierung stellte den Stein in einen antiken Kontext, aber im Zwielicht konnte sie nicht sicher sein.
Sarah drehte ihn um. Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich, als sie eine Inschrift auf der Rückseite entdeckte. Sie rieb den Schlamm fort und offenbarte ein Symbol, das sie nicht kannte. Auf dem Marmor befand sich eine Reihe aus vier in gleichmäßigen Abständen eingravierten Punkten.
Daniel Madigan stand am Rand der Rollbahn des Privatflugplatzes des internationalen Athener Flughafens. Sein Blick war auf die sich brechenden Lichter der Tragflächen gerichtet, während das Flugzeug auf ihn zurollte. Das schrille Heulen des Motors schmerzte seine Ohren und trug zu seinem Unbehagen bei.
Der Einweiser kreuzte ein Paar fluoreszierende, gelbe Lichtstäbe über seinem Kopf, um dem Flugzeug das Signal zum Anhalten zu geben. Die fünf Minuten, bis sich die Tür der Maschine öffnete, schienen wie Stunden. Um seine Erschöpfung zu vertreiben, rieb sich Daniel die Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte.
Der Mann, den er erwartete, tauchte am oberen Ende der Metalltreppe auf und schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch. Er stieg die Stufen mit beschwingten Schritten hinunter, die seine korpulente Statur Lügen straften.
Daniel ging auf ihn zu, um ihm auf halben Weg zu begegnen. Er hatte genaue Anweisungen erhalten: Das Treffen musste auf der Rollbahn stattfinden, wo niemand mithören konnte.
«Madigan.» James Langham, der Vorsitzende der A.E.-Thurlow-Stiftung, streckte eine aufgedunsene, kurzfingerige Hand aus. «Danke, dass Sie mich so kurzfristig treffen.»
«Nicht der Rede wert, James.» Daniel überspitzte seinen Tennessee-Akzent, wie er es oft tat, wenn er mit hochrangigen Briten sprach. Er verzichtete auch auf Höflichkeitsformen, in diesem Fall Sir, weil er die Heuchelei nicht leiden konnte.
«Ich vertraue darauf, dass niemand weiß, dass Sie hier sind.»
«Niemand. Genau wie Sie wollten.»
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