«Eine Einfriedung», murmelte er vor sich her, während er sich umsah. Ihm war bewusst, dass seit Pausanias Aufzeichnung achtzehnhundert Jahre vergangen waren. In dieser Zeit war das Bauwerk wahrscheinlich zu einer Ruine zerfallen.
Er folgte der Kante, an der sich das Massiv über dem Hain erhob, und richtete seinen Blick durch das Fernglas von der Erde zur Bergflanke. Selbst nachdem er über einen halben Kilometer weit gegangen war, hatte er keine Öffnungen gefunden, keine Risse, keine Anzeichen einer eingestürzten Wand.
Er hatte nicht erwartet, dass es offensichtlich wäre. Immerhin war es Wissenschaftlern und Entdeckern jahrzehntelang entgangen. Aber diejenigen, die vor Daniel hier gewesen waren, hatten nicht das, was er bei sich trug: den Messingpfahl.
Er leuchtete mit seiner Taschenlampe über die Erde und suchte jeden Quadratzentimeter nach Hinweisen ab. Einen Moment lang stand er still, betrachtete den Schneeschauer bei seinem Tanz im leichten Wind und der Landung auf dem frostverdorrten Gras.
Es gab eine Stelle, ungefähr vier Meter von seinem Standort entfernt, wo sich kein Schnee niederließ. Könnte dort eine Öffnung sein? Daniel ging hinüber und bemerkte eine Senke im Boden. Auf Knien befühlte er das Gestrüpp und hielt den Atem an, als seine Hand auf etwas Hartes und Gleichmäßiges stieß.
Er teilte das Gras, und ein Stück weißen Marmors kam zum Vorschein, das unschwer als Stein hätte übersehen werden können. Dies war ein Teil der Einfriedung; er war sich ganz sicher. Auf der Suche nach etwas, in das der Pfahl hinein passen würde, tastete er den Bereich vorsichtig ab. Als er ein zweites Marmorstück mit einer Vertiefung in dessen Mitte spürte, schlug sein Herz schneller.
Er öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und holte den Messingpfahl heraus, den er aus schützenden Schaumstoffplatten auspackte. Wenngleich von der Patina des Alters getrübt, glänzte der Gegenstand im bleichen Licht des Dreiviertelmonds. Daniel stand auf und stieß das scharfe Ende in den Marmor. Als nichts geschah, drehte er den Pfahl nach rechts, dann nach links. Es funktionierte nicht.
Die Baumeister dieser Höhle hätten es nicht so leicht gemacht. Er durchforstete sein Gedächtnis nach Pausanias Worten und einem weiteren Hinweis. Der Chronist der Antike, der von sich behauptet hatte, die Höhle des Trophonios aus Erster Hand erlebt zu haben, beschrieb die Aushöhlung als «Brotofen» – vermutlich ein Zylinder – von vier Ellen Breite und acht Ellen Tiefe.
Hinter allem, was die alten Griechen getan hatten, steckte Intention, und diese Maße könnten sehr gut durch mathematische Grundsätze bestimmt sein. Daniel hatte gelesen, dass sich Trophonios zur Buße der pythagoreischen Lehre verschrieben hatte und seinen Lebensabend damit verbrachte, nach der esoterischen Weisheit zu streben, die Pythagoras formuliert hatte, dessen Weltbild sich auf die Göttlichkeit von Zahlen stützte.
Die für Pythagoras heiligste Zahl, erinnerte Daniel sich, war die Zehn: Die Dreieckszahl und metaphysisches Symbol, das die Ordnung des Universums kennzeichnet. Dann überdachte er die Anordnung der Zahlen, die zehn ergaben. Einen Versuch ist es wert, dachte er.
Er drehte den Obelisken viermal im Uhrzeigersinn herum, dann dreimal in der Gegenrichtung, dann zweimal, dann einmal.
Daniel hörte ein leises Grollen und spürte, wie sich die Erde unter seinen Füßen bewegte. Als er begriff, dass sich ein Abgrund auftat, sprang er zurück. Er versuchte, festen Boden zu erreichen, aber er wurde in die Tiefe gezogen.
Daniel landete so hart auf seiner Seite, dass es ihm die Luft aus der Lunge presste. Während er dort lag, nach Atem ringend, füllte sich sein Geist mit dem vertrauten, rotblinkenden Licht. Es war nur ein Sturz, sagte er sich im Versuch, die Ruhe zu bewahren. Nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst.
Während sich seine Lunge wieder mit Sauerstoff füllte, bemerkte er, dass seine Taschenlampe zerbrochen war. Auf allen vieren umherkriechend suchte er nach seinem Nachtsichtfernglas, aber es war nicht da. Wie auch sein Rucksack lag es wahrscheinlich auf der Erde oberhalb des Höhlenbodens.
Verhängnisgedanken unterwanderten Daniels Verstand. Er hockte auf den Knien und packte sich mit beiden Händen in die Haare, um das Gefühl abzuschütteln. Er hatte zwei Möglichkeiten: Den innersten Bereich von Trophonios Höhle zu erkunden und nachzusehen, was dort verborgen war, oder einen Weg aus dem zylindrischen Hohlraum heraus zu finden.
Daniel sah flüchtig zur runden Öffnung hinauf, die den Eingang zur Höhle kennzeichnete, und begutachtete das verfallene Wandgemäuer des Baus. Es wäre schwer, ohne Seil heraus zu gelangen, aber nicht unmöglich. Einen Augenblick dachte er darüber nach, seinen Auftrag hinzuschmeißen und sich aus dem Staub zu machen. Aber er hatte noch nie eine Mission abgebrochen und er würde jetzt nicht damit anfangen.
Daniel holte tief Luft, um seine Nerven zu beruhigen, und tastete in der Dunkelheit nach der Öffnung, die Pausanias beschrieben hatte. An der Nahtstelle zwischen dem Höhlenboden und den Wänden befand sich angeblich eine schmale Spalte, die ins innere Heiligtum führte, wo Orakelsuchende ihre Visionen empfingen. Der Weg dorthin wurde als furchteinflößend beschrieben, denn er war mit einem starken Gefühl für das Selbst und den Glauben verbunden. Diejenigen, die in der ein oder anderen Hinsicht wankten, kehrten vom Trophonios-Orakel aufgewühlt zurück, erschüttert, traumatisiert – und manchmal starben sie.
Nach einem Hinweis tastend strich Daniel über die Wände. Die Steine, die zum Bau der Höhle verwendet wurden, waren zerfallen oder von Vegetation überwachsen, was die Aufgabe erschwerte. Schließlich fanden seine Finger eine kleine Einkerbung am Boden des Bauwerks, die von einem Wurzelgeflecht verdeckt war.
Das ist es.
Er zerriss die Wurzeln, bis mehr von dieser Öffnung frei lag, und ertastete einen horizontalen Riss, ähnlich einer geplatzten Naht, der sich zwischen der Erde und der zerfallenen Kalksteinwand erstreckte. Er trat gegen den Spalt, zuerst zaghaft, dann bestimmter. Der Stein gab nach.
Die Öffnung, so berechnete Daniel, war etwa sechzig Zentimeter breit und fünfzehn Zentimeter hoch – kaum groß genug, dass die unteren Extremitäten eines Mannes hinein passten.
Pausanias Beschreibung war eindeutig. Am Übergang zwischen oben und unten befindet sich eine Öffnung, zwei Spannen breit und eine hoch. Der, der hinabsteigt, liegt flach am Boden der Höhle und führt, mit Honigkuchen in den Händen, zuerst seine Füße in die Öffnung ein, dann seine Knie; und dann wird sein ganzer Körper hineingesogen, so wie ein reißender und großer Fluss jeden verschluckt, der in seinen Strudel gerät.
Obwohl er eine Stimme in seinem Kopf hörte, die ihm sagte, es sein zu lassen, entschied Daniel, es zu wagen. Er folgte der von Pausanias beschriebenen Technik, indem er sich rücklings auf den Boden legte, seine Füße in das Loch zwängte und dann seine Beine bis zu den Knien hineinschob.
An diesem Punkt sollte die Rinne ihn in die Tiefe ziehen, aber nichts geschah. Tatsächlich steckte Daniel fest; er konnte sich weder tiefer in die Öffnung zwängen, noch sich herausziehen. Seine Füße baumelten in einer unsichtbaren Leere. Was immer hinter dieser Wand lag, war hohl, wie ein Schacht. Er versuchte, sich tiefer hineinzuschieben, ohne Erfolg.
Daniel spürte eine schwache Vibration an seinem Rücken und legte eine Hand auf die Wand. Die Vibration verwandelte sich in ein Beben. Instinktiv versuchte er, sich aus der Öffnung zu winden, aber sie hielt seine Beine fest umschlossen. Er war gefangen.
Mit einem leisen Grollen brach ein Teil des Bodens weg, wodurch Daniel in einen Schacht gezogen wurde. Es war ein fast senkrechter Fall in absoluter Dunkelheit, der ihm so vorkam, als stürzte er in einen Abgrund. Während er mit zunehmender Geschwindigkeit fiel, hämmerte sein Herz so stark, dass er glaubte, seine Schlagadern würden platzen. Er schnappte nach Luft, kaum in der Lage zu atmen, aber es gab keinen Sauerstoff, den er hätte aufnehmen können. Er fühlte sich wie ein sterbender Mann. Dieses Gefühl hatte er nur einmal zuvor erlebt, in einem Moment, den er so verzweifelt aus seinem Gedächtnis zu löschen versuchte.
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