Sie sprach ihn mit fröhlichem Ton an. «Ihr habt einen weiten Weg auf Euch genommen, mein lieber Cleon. Was führt Euch zu unserer bescheidenen Schule?»
«Ihr unterrichtet diese Mädchen also noch immer.»
«Natürlich.» Sie blickte über ihre Schulter hinweg zu der Platane, die ihr als Unterrichtsort diente. Einige der älteren Mädchen unterhielten sich in ihrem Schatten. «Nur durch Bildung wird mehr aus ihnen werden als jemandes Gattin oder Mutter oder Tochter. Und vielleicht werden Frauen eines Tages in unserem Land nicht mehr unsichtbar sein.»
«Eure Hoffnung ist groß.»
«Die Dinge sind im Wandel, Cleon. Wir müssen den Frauen eine Stimme verleihen, wenn wir uns den Unterdrückern als starke Gesellschaft entgegenstellen wollen.»
«Aus diesem Grund bin ich hier.» Er nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug. «Ich wollte derjenige sein, der Euch davon berichtet.»
Sie spürte seinen Kummer und legte eine Hand auf seine Schulter. «Mir von was berichten, alter Freund?»
«Theodosius wurde als Kaiser beider Seiten des Römischen Reiches ausgerufen. Er verfügt über die Obergewalt. Das sind keine guten Neuigkeiten für uns.»
Ein Schauder lief über Aristeas Rücken. Während er die östliche Hälfte des Imperiums regierte, hatte sich Theodosius als unbarmherziger Anführer erwiesen. Die Zerstörung des Serapeums im Jahr zuvor war eine der vielen Gräueltaten des Kaisers, der das Schwert eines höheren Wesens schwang, das Aristea und ihrem Volk unbekannt war.
Der Kaiser hatte auch Vergeltung gegen die Thessalonicher befohlen, die einen seiner Statthalter getötet hatten. Diese Maßnahme hatte einen blutigen Aufstand und den Verlust von mehr als siebentausend Leben zur Folge gehabt. In jüngerer Zeit hatte Theodosius mehrere Dekrete erlassen, die sich alle mit heidnischen Stätten und Praktiken der Gottesverehrung befassten.
Obwohl sie den Trommelschlag des Verderbens in ihrer Magengrube spürte, blieb sie dem alten Priester zuliebe zuversichtlich. «Er wird uns kein Leid tun. Wir haben nichts getan, das seinen Zorn wert wäre.»
Cleon beugte sich vor. «Vernehmt meine Worte, Aristea. Theodosius hat ein neues Gesetz zur Verbannung des Heidentums ausgerufen. Ganz gleich, wie friedfertig unsere Rituale sind, es ist uns hiermit verboten, sie durchzuführen. Auf Blutopfer steht die Todesstrafe. Ebenso auf Weissagung, die in seinen Augen eine Form von Hexerei darstellt.»
«Wir werden es im Geheimen tun. Niemand muss davon erfahren.»
Er schüttelte den Kopf. «Sie haben ein Auge auf Delphi. Als das wichtigste nichtchristliche Heiligtum in ganz Griechenland steht es unter einem äußerst prüfenden Blick. Ich möchte damit sagen, dass wir keine Supplikanten mehr empfangen können. Es wird ohnehin niemand Gefängnis und Folter riskieren, um hierher zu reisen.»
Die Offenbarung traf Aristea wie ein Stein aus einem Katapult. «Aber das wird das Ende von Delphi bedeuten. Das darf nicht geschehen.»
Ein Windhauch kam vom Berggipfel und strich durch den Hain. Cleon zog das Rehfell enger um sich und wandte sich dem hinaufführenden Pfad zu. Er blickte hinter sich. «Seid vorsichtig, was Ihr diese Mädchen lehrt. Ihr könnt nicht sagen, wer zuhört.»
Sie wusste, dass Cleon recht hatte, aber es ärgerte sie dennoch. «Mit meinem letzten Atemzug werde ich mein Wissen mit ihnen teilen. Das ist mein Geburtsrecht und meine heilige Pflicht.»
Er lächelte. «Eure Ahnin Themistokleia war ebenso tollkühn.»
«Gebt auf Euch acht, alter Freund.»
Cleon folgte dem Pfad nach Delphi. Aristea blickte zur Spitze des Gebirges, wo die Phadriaden sich wie Hundezähne einem schimmernden Himmel entgegenstreckten. Jahrhundertelang hatte ihr Volk im Schatten der Felsen gestanden und mit dem Göttlichen gesprochen.
Sie schwor, dass kein fanatischer Kaiser ihnen dieses Recht nehmen würde.
«Es tut mit leid, Sarah.» Daniels Miene war hart wie der Basalt der Berge. «Ich hätte es dir früher sagen sollen.»
Seine Bekanntmachung, dass er wieder nach Saudi-Arabien zurückkehrte – allein – erschütterte sie. Das hatte sie nicht kommen sehen. «Das verstehe ich nicht. Ich dachte, wir segeln dieses Schiff gemeinsam.»
«Das hat nichts mit dir zu tun. Ich muss eine Weile allein sein, ein paar Dinge klären.» Er zog den Reißverschluss seines Rucksacks zu und hängte ihn sich über die Schulter, dann griff er nach seiner armeegrünen Reisetasche. «Mein Fahrer wartet.»
«Ich schätze, dann solltest du einsteigen.» Ihre Stimme war schwach.
Er berührte ihr Gesicht mit seiner kalten Hand und streichelte ihre Wange mit dem Daumen. Von der Scheinheiligkeit der Geste abgestoßen entzog sie sich ihm.
Er starrte sie mit leerem Blick an, dann drehte er sich zur Tür um, zog sie auf und ließ sie hinter sich zufallen.
Sarah erwachte mit einem Ruck. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie am Tisch in ihrer Hütte eingeschlafen war. Sie hatte bis spät in der Nacht die Bücher Pausanias' auf ihrem Laptop gelesen und musste eingeschlafen sein. Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sich von dem unerwünschten Traum zu befreien.
Es half nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte, und sie entschied, es diesmal nicht auf sich beruhen zu lassen. Sie musste mit ihm reden.
Sie schloss den Reißverschluss ihrer Fleecejacke und machte sich durch das dunkle Wäldchen auf den Weg zu Daniels Hütte. Das fahle Mondlicht beleuchtete einen Schneeschleier, der zwischen den Kastanienblättern herabfiel und schmolz, sobald er den Boden berührte. Es schien, als sei der Winter vollkommen ins thebäische Bergland eingekehrt.
Sarah blieb vor Daniels Tür stehen und klopfte. Sie wappnete sich für das, was auch immer kommen würde. Zitternd wölbte sie ihre Hände und blies hinein. Aus der Hütte kam keine Antwort. Sie klopfte erneut und rief diesmal seinen Namen.
Wieder keine Antwort.
Sie wollte den Türknauf drehen, hielt sich aber davon ab, da sie nicht in seine Privatsphäre eindringen wollte. Vielleicht konnte die Sache am Ende doch bis zum Morgen warten.
Sie entschied sich für den langen Rückweg zu ihrer Hütte, am Parkplatz vorbei. Insgeheim wusste sie, dass der Rover nicht da sein würde. Und sie hatte recht.
Lange stand sie unter den herabfallenden Schneeflocken und starrte das einzig auf dem Parkplatz verbliebene Auto an: Evans Land Cruiser. Daniel war fort.
Sorge brannte in ihrem Gesicht. War es möglich?
Sie warf einen Blick in Richtung des monolithischen Gebäudes jenseits des Wäldchens. Sie begann zu laufen, dann zu rennen, und sprang über freiliegende Wurzeln und knirschende, herabgefallene Blätter, während sie auf ihr Ziel zueilte.
Als Sarah die Tür zum Labor erreichte, war sie außer Atem. Ihre Hände zitterten, als sie die Kombination eingab und die schwere Metalltür aufstieß. Sie schaltete das Licht ein und der Raum wurde von einem Schwall Neonlicht durchflutet. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich im hell erleuchteten Labor um. Als sie sich an das Licht gewöhnt hatte, war sie erleichtert, alles so vorzufinden, wie sie es etwa acht Stunden zuvor verlassen hatte, als sie ihre Studien am Rhyton beendete.
Sie ging zum Tresor, gab die Kombination ein und hörte das vertraute pneumatische Seufzen. Langsam öffnete sie die Tür und überflog die gestapelten Schalen voller Artefakte. Ihr Blick blieb an der leeren Schale mit der Aufschrift Messingpfahl, Böotien hängen.
Sie ballte die Fäuste. Wie konnte er nur?
Sie schloss den Tresor und ging direkt zu den Haken bei der Eingangstür, wo der Schlüssel zum Land Cruiser hing. Sie nahm ihn und schrieb eine eilige Nachricht für Evan.
Musste mit dem Cruiser in die Stadt fahren. Bin bald zurück.
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