«Lethe und Mnemosyne … wo habe ich das sonst noch gehört?» Daniel strich sich abwesend über die dunklen Stoppeln, die sich über seinem Kinn ausgebreitet hatten, und blickte weg. Nach einem langen Moment schnippte er mit den Fingern und zeigte auf Sarah. «Das Orakel des Trophonios.»
Sarah musste ihr Gedächtnis durchforschen, um sich an den wenig bekannten Mythos zu erinnern. Als ihr bruchstückhafte Details einfielen, spürte sie, wie sich in ihrer Magengrube ein Feuer entfachte. Bevor sie irgendeine Aussage traf, setzte sie sich an den Computer und rief den zweiten Band von Pausanias Beschreibung Griechenlands in der digitalen Bibliothek von Cambridge auf.
Eine Suche innerhalb der Ausgabe förderte die Erzählung des antiken griechischen Chronisten über die mysteriöse Höhle und sein Orakel zutage. Eine Falte bildete sich zwischen Sarahs Brauen, als sie die akribische Beschreibung las. Es war erstaunlich.
Daniel beugte sich über ihren Stuhl. «Es ist so lange her, dass ich Pausanias gelesen habe. Ich hatte vergessen, in wie vielen Details er sich ergeht.»
«Das geht seitenweise so weiter. Hier steht, was er über Lethe und Mnemosyne sagt: Die Priester führen den Suchenden nicht zum Orakel, sondern zu den Quellen des Flusses, die sehr nahe beieinander liegen. Und hier muss er trinken vom Wasser namens Lethe, dass er all seine früheren Gedanken vergessen möge, und anschließend muss er trinken vom Wasser der Erinnerung, und dann wird er sich merken, was er bei seinem Abstieg sehen wird.» Sarah sah zu Daniel auf. «Das Rhyton wurde in Chaironea gefunden, nicht weit von Livadia. Laut Pausanias befand sich die Höhle des Trophonios irgendwo in diesem Gebiet, in der Nähe vom Fluss Herkyna. Könnte das der Becher sein, aus dem die Suchenden des Trophonios getrunken haben?»
Er richtete sich auf. «Es ist nicht unmöglich. Aber warum der Wolfskopf? Das einzige im Text erwähnte Tier ist der Opfer-Widder.»
«Dazu habe ich auch eine Theorie. Ich weiß, es klingt weit hergeholt, aber es gibt eine im Mittelmeerraum heimische giftige Pflanze, die das Gedächtnis beeinträchtigen kann, wenn sie auf bestimmte Art eingenommen wird. Euphorbia characias wulfenii – auch bekannt als Wolfsmilch. Vielleicht war es nicht das Flusswasser, das die Menschen hat Dinge vergessen lassen.»
«Du glaubst, sie haben ein Wolfsmilchgebräu hergestellt und es in diesem Rhyton angeboten?»
«Warum nicht?»
«Ich schätze, alles ist möglich.» Er verschränkte die Arme. «Wenn wir jetzt nur eine Verbindung zum Obelisken herstellen könnten.»
Sie scrollte durch den Text und deutete auf den Bildschirm. «Da ist sie.»
Daniel las laut vor. «Das Orakel liegt über dem Hain auf dem Berg. Und da herum steht eine runde Mauer aus Stein, deren Umfang sehr gering ist und deren Höhe weniger als zwei Ellen misst.» Er hielt inne und las den nächsten Teil still für sich selbst. «Wow.»
Sarah drehte ihren Stuhl herum, um ihn anzusehen, und wiederholte Pausanias' Worte. «Und es gibt Säulen und Balken aus Messing, die sie verbinden, und zwischen ihnen liegen Türen.»
«Kluges Mädchen.» Er sah auf und stieß den Atem aus. Wie zu sich selbst sagte er leise: «Das könnte die Antwort sein.»
Sie stand auf. «Die Antwort auf was?»
«Äh …» Er schien nach einer Erwiderung zu suchen. «Ich meine, der Grund. Der Grund, warum die Diebe dem Obelisken nachjagen.»
«Und was stellen wir jetzt mit dieser Information an?»
«Wir behalten sie vorerst für uns.» Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und beugte sich näher. «Erwähne nichts davon gegenüber Evan.»
Seine Reaktion überraschte sie. Sie hatte erwartet, dass er darauf versessen wäre, Interpol davon zu berichten, oder doch wenigstens den örtlichen Behörden. Oder vielleicht das Objekt an eine besser gesicherte Einrichtung zu schicken. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er eine Agenda hatte, von der sie nichts wusste.
Daniel sah auf seine Uhr. «Ich muss in die Stadt fahren, eine Besorgung machen. Vielleicht kannst du am Abdruck der Innenseite des Rhytons arbeiten? Wenn die Inschrift weiterginge, wäre das eine wertvolle Spur.»
«Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich haben werde. Evan wird wahrscheinlich jeden Moment zurückkommen.»
«Mach dir keinen Kopf um Evan. Er hat ein paar Meetings.» Daniel zwinkerte ihr zu.
Sarah wusste, dass keine Meetings geplant waren. Aber es würde nur einer Nachricht von Daniel an die hohen Tiere der Stiftung bedürfen, die eindeutig mehr von ihm hielten als vom Leiter der Ephorie, um Termine zu vereinbaren, die Evan für ein paar Stunden ablenken würden. Dann konnte sie die Arbeit erledigen. Sarah bestätigte die Taktik mit einem Nicken.
Daniel lächelte und wandte sich zum Gehen.
Sarah sah ihm nach. Obwohl sie unbedingt wissen wollte, warum er in die Stadt fuhr, fragte sie ihn nicht danach. Sie streichelte die tibetischen Gebetsperlen, die er ihr geschenkt hatte, und die sie jetzt dreimal ums Handgelenk gewickelt trug, als ob diese die Antworten auf die Fragen kannten, die Sarah quälten: Warum verschwand Daniel immer wieder? Wem legte er Rechenschaft ab? Was hielt er zurück?
Und die eine, die sie auf keinen Fall stellen wollte, nicht einmal sich selbst: Konnte sie ihm vertrauen?
Daniel ließ den Motor des Land Rovers an, trat das Gaspedal durch und hinterließ eine Staubwolke. Als das Lager nur noch ein Punkt im Rückspiegel war, schrieb er Langham eine Nachricht.
Ich habe, was Sie wollen.
Sekunden später klingelte das Handy. Langham hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. «Machen Sie schnell. Ich bin im Begriff, den Premierminister zu treffen.»
«Der Obelisk könnte Teil des ursprünglichen Bauwerks sein, das die Höhle von Trophonios umgab.»
«Das sagt mir nichts.»
«Es war eine Orakelstätte im antiken Griechenland. Die Rituale dort waren geheimnisvoll, sogar furchteinflößend. Die Höhle wird von einigen antiken Autoren sehr ausführlich beschrieben, aber es wurde nie etwas entdeckt, das auf diese Beschreibung passt.»
«Unsere Informationen besagen, dass der Obelisk ein Schlüssel ist.»
«Genau. Er könnte der Schlüssel sein, der den Eingang zu dieser Höhle öffnet.» Daniel sah in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Er erkannte in sich den Instinkt des Gejagten. Sein Herz schlug etwas schneller. «Und was da drin sein könnte, weiß nur der Himmel.»
«Klingt so, als hätten Sie eine Theorie zu beweisen. Ich will, dass Sie den Obelisken dorthin mitnehmen und herausfinden, ob er als Schlüssel dient. Tun Sie es noch heute.»
«Sarah weiß davon. Sie ist diejenige, die es herausgefunden hat.»
«Verdammt, Madigan. Sie sollten sie da raus lassen.» Langham atmete heftig aus. «Was immer Sie tun, verwickeln Sie sie nicht in die Aufklärung. Zu ihrem eigenen Besten.»
«Wenn alles, was über diese Höhle geschrieben wurde, wahr ist, dann bin ich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, das allein zu tun.»
«Sie müssen. Das ist nicht verhandelbar.»
«Seien Sie doch vernünftig …»
«Warten Sie.» Gedämpft sprach Langham mit jemand anderem. Als er sich wieder dem Telefonat zuwandte, klang er ungeduldig. «Man ist bereit, mich zu empfangen. Denken Sie daran: keine Fehler.»
«James …»
Die Verbindung brach ab.
Daniel ließ das Fenster herunter und spürte, wie die frische Luft seine Stirn kühlte. Er war sich nicht sicher, ob seine Unruhe von Furcht oder Wut rührte, aber so oder so war sie unbekanntes Terrain für ihn. Er holte zweimal tief Luft, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Als das nicht half, kramte er eine kleine, blaue Tablette aus seiner Tasche. Er schluckte sie hinunter und zuckte wegen ihres bitteren Geschmacks zusammen.
Reiß dich zusammen, sagte er sich. Es ist fast vorbei.
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