»Man denkt ja immer, auf dem Wasser wird es stockfinster, aber das stimmt nicht«, sagte Herr Mücke, der meinen Blick bemerkt hatte. »Wenn es stürmt, ist die Dunkelheit ganz unheimlich. So war das auf der Bremen . Da hatten wir fast fünfzig Knoten Wind. Oder waren es fünfzig Kilometer pro Stunde? Wir waren jedenfalls auf halbem Weg von Südamerika in die Antarktis. Sie brachten mich auf die Krankenstation, so schlecht war mir, dann mussten die Pfleger weg, und ich lag allein da unten. Rauf und runter ging es, und dieser Lärm. Ich dachte, gleich ist es aus.«
Er faltete die Serviette, legte sie neben den Teller, wischte mit der Hand ein paar Krümel vom Tisch. »Nun schauense doch nicht gleich so bange. Noch ist ja kein Seegang. Der Wind bläst in Fahrtrichtung. Wir kommen vielleicht sogar schneller über den Teich, wenn das so weiterpustet.«
Er stand auf, nickte mir aufmunternd zu.
Der Prince Regent Inlet war noch verstopft, sagte der Eispilot. Unmöglich, da durchzufahren. Im Larsensund löste sich das Eis hingegen langsam auf.
Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, wie einer, den ein paar Sätze schon ziemlich anstrengten. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er hatte ein verlässliches Gesicht, so wie ein Handwerker, dem man seine Waschmaschine anvertraut. Doch man merkte, wie unwohl er sich fühlte. Seine Aufgabe war es, Satellitenbilder auszuwerten, mit anderen Schiffen Kontakt zu halten und die meiste Zeit auf der Brücke nach vorne zu schauen, aufs Meer. Kein Wunder, dass ihm das nicht passte, hier in der Bar von Passagieren angegafft zu werden. Sicher wollte er wieder in seinen Sessel und aufs Wasser sehen. Wer hätte das nicht gewollt? Da war ein Glitzern und Funkeln, das die Sonne auf das Blau warf, Abertausend Diamanten, die das Meer in einen gigantischen Lurexteppich verwandelten.
Die Bar war eingerichtet wie ein Casino aus den Achtzigern: beige-braun gemusterte Teppichböden, indirektes Licht, Plexiglas, chromverschraubte Tische und farblich abgestimmte Drehsessel. Die Expeditionsleiter packten die orangen Anzüge wieder ein, die wir anziehen sollten, wenn das Schiff sank, obwohl niemand gesagt hatte, »wenn das Schiff sank«, so wie im Flugzeug niemand sagt, »wenn wir abstürzen«. »Im Fall eines Druckverlustes in der Kabine« hieß hier, »wenn das Notsignal ertönt«. Drei Mal kurz, fünf Mal lang. Die Rettungskapseln waren auf Deck 5.
In den folgenden Tagen würden wir Vorträge hören, gelegentlich an Land gehen und wieder Vorträge hören. In der Arktis galt ein Verhaltenskodex: nichts pflücken, abbrechen, mitnehmen. Nicht in fremde Fenster fotografieren. Keinen Müll liegen lassen und in den Gemeinden möglichst nicht auf die Toilette gehen, wegen der Wasserknappheit. Die Expeditionsleiter waren zwischen dreißig und Ende sechzig und stammten aus Deutschland, Kanada, Polen, Frankreich, Norwegen und Großbritannien. Sie waren Geologen, Vogelkundler, Meeresbiologen, nur der blonde Typ mit der Bommelmütze war Snowboarder und Life Coach, und er kannte sich ein bisschen mit Eisbären aus.
Die meisten Passagiere hatten die Bar bereits verlassen. Ein Pärchen unterhielt sich auf dem Weg nach draußen. Sie sagte: »Dasch mit den Eis, ich glaub dene dasch net, die wolle uns doch verarsche.«
Als hätte er darauf gewartet, dass ich in seine Richtung blickte, räusperte sich der Mann neben mir. »Machen Sie diese Reise auch zum ersten Mal?«, fragte er mich auf Englisch.
Die Frage, die er mir gestellt hatte, entsprach dem Knigge für Kreuzfahrten. Es gab nicht viele Themen, die man auf einem Schiff am Kapitänstisch besprechen durfte, und der Kapitänstisch war auf See das Maß aller Dinge. Erlaubt waren: Essen (neue Restaurants, interessante Köche). Kochen (selber kochen, Rezepte und lustige Kochpannen). Reisen (wo man schon mal war, wo man als Nächstes hinfuhr). Zu vermeiden war alles, über das man streiten konnte oder was andere möglicherweise zum Weinen brachte: Fußball, Politik, Krankheit, Tod. Auch Familie war als Thema heikel. Nicht jeder hatte Kinder, nicht jeder mochte Kinder, die wenigsten Kinder waren interessant. Über seinen Beruf durfte man sprechen, vorausgesetzt, man war kein Fußballer, Politiker, Arzt oder Bestatter.
Ich schätzte ihn auf etwa siebzig, er hatte grau-schwarz melierte Haare und ein rundes, freundliches Gesicht. Neben seinem Stuhl lehnte ein weißer Spazierstock.
Da ich nicht sofort antwortete, warf er einen Blick in mein Skizzenbuch, in das ich die Umrisse der Küste gezeichnet hatte.
Ob ich mich für Landschaften interessiere, fragte er, kramte in seiner Hosentasche und holte ein Handy hervor.
Hier, diese Bilder hatte er gemacht, am Computer! Er zeigte mir eine Reihe von alienhaften Gegenden mit gelben, zerklüfteten Felsen, roter Erde und einem türkisblauen Himmel mit violetten Monden. Beinahe hätte ich gerufen: Ach, daher haben die Outdoorfritzen diese irren Farben! Aber ich beherrschte mich.
Hier, dieses Motiv hatte ihm ein Buchverlag für das Cover eines Fantasyromans abgekauft. Das Buch könne er mir aber nicht empfehlen. Schlechte Physik. Das Foto hatte er in Andalusien aufgenommen, ob ich schon mal in Andalusien war, nein? Ich sähe ein bisschen spanisch aus. Sie hatten dort neben einem Bauern gewohnt, der einen Esel hatte. Die ganze Nacht schrie er, der Esel, nicht der Bauer, was war das für ein Lärm, wie eine gequälte Tür, die nicht auf- und nicht zuging.
George sprach über die Ohrenform und die Fellfarbe besagten Esels, von dem seine Frau Agnes, die gute Agnes, heute noch behauptete, es sei ein Muli gewesen.
Ich fragte mich, wem und wie oft George diese Geschichte wohl schon erzählt hatte. Vielleicht war ich Nummer neunundneunzig in einer Reihe nickender Gesprächspartner, die gedacht hatten: »Esel, Esel, mir doch egal, aber der Typ ist irgendwie nett«, oder »Esel, Esel, wie spät ist es, was mache ich hier, kann mal mein Telefon klingeln?«. Das Problem bei Männern wie George war, dass man sie mögen musste. Er sprach leise, seine Augen schauten mit einer gewissen Wachsamkeit, aber nicht abwertend, sondern ganz ohne Arg. Sofern man also kein engherziger Mistvogel war, benahm man sich gefälligst angemessen freundlich. Also nickte ich und dachte: »Esel, Esel, ja, dann eben ein Esel.«
Wie ich denn den Vortrag von eben gefunden hätte. Er zweifele ja stark daran, dass uns diese dünnen Overalls vor dem eiskalten Wasser schützen würden.
Ich musterte ihn. Er wirkte nicht wie jemand, der sich mal eben in den komplizierten Schlaufenmechanismus der Rettungsanzüge hineinwinden könnte.
Natürlich, sagte ich, waren diese Anzüge total fehl am Platz.
Für ihn waren die sowieso nichts. Der dritte Schlaganfall hatte alles verändert. Er kam einfach nicht mehr mit. Die Menschen sprachen schneller, die Autos fuhren schneller, und die Tage rasten dahin. Man wachte auf, und kaum hatte man gefrühstückt und sich über den Tag gefreut, war es schon Nachmittag, es gab Kaffee und Kuchen, immer um vier, darauf bestand die gute Agnes, sie liebte ihren Butterkuchen, und dann war es ja meistens auch bald sechs und Zeit für Schnittchen, dann schalteten sie den Fernseher ein, Nachrichten, ein Film, dann war es zehn und Zeit fürs Bett. Er dachte immer mal wieder daran, dass die gute Agnes sicher etwas anderes wollen würde, als sich ständig um ihn zu kümmern. Aber das tat sie. Sie kümmerte sich um alles. Sie kaufte ein, sie besorgte den Haushalt, sie half ihm beim Waschen, sie zog ihn an, sie füllte seine Medikamente ab, erinnerte ihn daran, sie zu schlucken. Sie fuhr sogar Auto, obwohl sie Autofahren immer gehasst hatte.
Gut, seit drei Jahren kam eine Putzhilfe, weil sie ein bisschen kurzatmig geworden war. Die Tochter, nein, die konnte das nicht auch noch. Die hatte inzwischen selber zwei Kinder, beides Mädchen, sieben und neun, und alle Hände voll, das könne man nicht erwarten, die langen Wege, immerhin war das eine ganze Stunde Fahrt. Der Sohn wohnte ja in Frankreich.
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