Ich bestellte einen Wein und ignorierte meinen knurrenden Magen. Buffets setzten mich unter Druck. Allein im Restaurant zu sein, setzte mich unter Druck. Es müsste ein Schild für alleinstehende Frauen geben: »Bitte nicht füttern, anbaggern oder anstarren«. Im Kleingedruckten stünde da noch: »Liebe Gattinnen, diese Frau hat kein Interesse an Ihrem Mann (Echt nicht! Behalten Sie ihn bitte!). Liebe Mütter kleiner Kinder, dieser Frau geht es nicht automatisch besser, weil sie ausschlafen konnte. Bitte stellen Sie Ihre Kinder auf lautlos und führen Sie sie an der Leine.« Obwohl, nein. Es müsste kostenfreien Roomservice für allein reisende Frauen geben. Weltweit, in allen Preisklassen. Kommen Sie mir nicht mit Anschluss und Leute kennenlernen oder irgend so einem Gefühlsmist. Wenn man einsam ist, bleibt man einsam, auch im Ausland. Urlaubsbekanntschaften sind Bekanntschaften, die in den Urlaub gehören. Wer in den Neunzigern die wahre Liebe zum griechischen Kellner im Robinson Club auf Samos erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Keiner muss einmal quer über den Globus fliegen und ein halbes Jahresgehalt verprassen, um das zu begreifen. Hinterher ist man doch nur noch einsamer als vorher.
Mit einem Mal schwamm eine Riesenpavlova am Fenster vorbei. Ein weißes Baiser, mit Blue Curaçao übergossen.
»Ein Eisberg«, rief ich.
Herr Mücke drehte seinen Oberkörper zu mir und zog die Augenbrauen hoch wie ein Forscher, der einen seltenen Wurm entdeckt hat. »Ist das Ihr erster?«
Ich nickte.
Er hob sein Bier. »Darauf trinken wir.«
Auf solchen Schiffen gebe es für jeden Unsinn ein Ritual, sagte er. Wer den Polarkreis überquerte, bekam eine Schöpfkelle Eiswasser über den Kopf. Am Äquator wurde man mit Fischöl eingeseift und abgeduscht, eine widerliche Sache, das. Nur bei Eisbergen gab es nichts, was im Grunde genommen schade war. Vielleicht waren es inzwischen einfach zu viele. Und das da, das war ja nur ein Eisbergchen. Ich sollte mal die dicken Tafeleisberge sehen, die vom Schelfeis abbrachen. Das waren vielleicht Kaventsmänner. Manche waren tausend Kilometer lang!
»Ach«, sagte ich.
Die hier kamen aus dem Norden und trieben gegen den Uhrzeigersinn um Grönland herum. Der die Titanic erwischt hatte, war auch aus dem Norden gekommen. Aber psst! Laut sagen durfte man das Wort nicht.
»Welches Wort: Eisberg?«, fragte ich.
»Nein.« Er flüsterte: »Tih-tah-nic«, und sah sich um wie Schlemihl aus der Sesamstraße, der mir ein unsichtbares Eis verkaufen wollte.
Ich lächelte.
»Auf einer meiner ersten Schiffsreisen sind wir in einen Orkan geraten«, erzählte Herr Mücke. »Mit der Bremen auf dem Weg in die Antarktis. Da hat mir das einer erzählt.«
»Sind Sie öfter auf Schiffen unterwegs?«
»Oh ja. Ich war schon sieben Mal in der Antarktis. Drei Mal bin ich den Amazonas hoch und einmal um Spitzbergen herum, mit einem Russen. Das Schiff, mit dem ich zum ersten Mal in der Antarktis war, ist vor zehn Jahren gesunken. Die Explorer . Die hatte 45 Grad Schlagseite.«
»Gesunken?«
»Nicht mit mir drauf! Da war ich nicht dabei. Und es ist auch keiner ertrunken. Haben Sie nicht davon gelesen? Vor ein paar Jahren südlich von Kap Hoorn. Das war vielleicht ein Spektakel. So ein Schiff, das sinkt ja nicht von hinten nach vorne, sie liegt schräg im Wasser. Schauen Sie, so.«
Er hielt seine flache Hand vors Gesicht und drehte sie schräg. Ich folgte der Bewegung und neigte den Kopf.
»Auf der unteren Seite ließen sie die Boote ins Wasser. Aber auf der oberen Seite, hier oben, da rutschte ja nichts. Da war ja nicht genug Neigung. Wissen Sie, wie die das gemacht haben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Als alle drinsaßen, sollten sie ans Heck krabbeln. Da wurde die Aufhängung gelockert. Das Boot rutschte ein Stück runter und hing nun schräg an der Außenwand. Sehen Sie, so. Dann mussten die Passagiere ans andere Ende krabbeln, dann wurde da die Aufhängung gelockert, und das Boot sackte dort hinab. Das haben sie im Wechsel gemacht, hin und her und hin und her, und so kam das Rettungsboot nach und nach runter ins Wasser. Das hat mir der Pole erklärt, der Tomek. Der war damals auch mit dabei. Die Rentner, hat er gesagt, die waren plötzlich alle ganz gelenkig.«
Ich musste grinsen. Herr Mücke machte das wie ich: immer schön auf die Bezugsgruppe schimpfen.
Herr Mücke stammte wie ich aus Berlin und hatte vor seiner Pensionierung erst als Uhrmacher, später als Lehrer an der Berufsschule gearbeitet. Nach dem Tod seiner Frau war er losgefahren, einfach losgefahren, und seitdem kaum noch zu Hause. Man dürfe sich da nichts vormachen, das kostete eine Stange Geld, aber mit der richtigen Vorbereitung ging das.
»Ich war schon vier Mal am Annapurna, aber nicht oben, wir sind immer nur bis zum Basislager gekommen. Beim letzten Mal habe ich dort eine junge Frau kennengelernt. Die sagte: ›Herr Mücke, wenn Sie mal in die Mongolei wollen, rufen Sie mich an. Ich organisiere das für Sie.‹ Und ich sage Ihnen, das müssen Sie vorbereiten! Das geht vom Auto – kriegen Sie mal ein Auto in der Mongolei, da gibt es keine Mietwagenfirmen, keine Tankstellen, keinen ADAC, entweder Ihr Auto fährt, oder Sie bleiben liegen, bis zum nächsten Frühling, wenn Sie Pech haben. Jedenfalls geht das vom Auto bis hin zu den Münzen, die man braucht, um ein Gebetstuch für die Geister zu kaufen. Egal, wo man hinkommt, immer muss man ein Gebetstuch aufhängen, um die Ahnen zu besänftigen, denn das Land gehört den Toten. Das glauben die Mongolen jedenfalls, und deswegen muss man dauernd irgendwelche Tücher aufhängen, die Geld kosten. Ich wollte meine Führerin zu den Tüchern einladen, aber sie hat gesagt, das geht nicht. Jeder muss selber bezahlen. Hier ist das ganz einfach, hier sind wir auf dem Meer. Hier müssen wir keine Tücher aufhängen.«
Ich sah aus dem Fenster und ließ meinen Blick über die tiefgraue wogende Masse Wasser wandern.
Weißer Salbei, hatte man mir geraten. Ich sollte Weißen Salbei abbrennen, dann würden die Träume aufhören. Also hatte ich im Esoterikladen am Heinrichplatz ein paar Kräuterkegel gekauft und stand irgendwann im Wohnzimmer meines Elternhauses, Rauch in sämtliche Ecken wedelnd. Ich hatte das Gebäude seit Jahren nicht betreten, in den letzten Wochen aber mehrfach von meinen Großeltern und Eltern geträumt. Das Haus war schon vor Jahren verkauft worden, nun stand es leer, der neue Besitzer wollte es abreißen lassen. Ich ging durch die Räume, die mir sonderbar klein vorkamen. Im Keller war alles von einem weißen Flaum bedeckt, als hätte es geschneit. Auf den Stufen, der Fensterbank, in den morschen Regalböden wuchs Schimmel, feinste weiße Fäden, die zitterten, wenn ein Windhauch darüber hinwegstrich. Immer mal wieder spürte ich einen kühlen Luftzug, der durch die Zimmer und Flure huschte, als wollte er die Erinnerungen aus den Räumen wehen, doch sie wehrten sich, sie wollten da wohnen bleiben, nur gab es nichts mehr, woran sie sich festhalten konnten. Kein Möbelstück, kein Mensch, noch nicht mal ein vergessener Müllsack. Im Schlafzimmer hatte ich kurz das Gefühl, jemand stehe hinter mir. Ich drehte mich um. Nichts. Ich ging weiter, in andere Räume, wedelte Rauch. Draußen fuhren Autos vorbei, Menschenstimmen kamen näher, entfernten sich. Auf dem Steinfußboden in der Waschküche lag ein toter Vogel. Ich glaube, es war ein Spatz.
Draußen hatte sich das Meer für ein mattes Anthrazit entschieden. Die Umrisse der Küste stachen hervor. Ich hatte mein Skizzenbuch mit an Bord genommen, auch den Farbkasten, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht benutzen würde. In der letzten Zeit malte ich nur noch Striche, Umrisse. Das war noch nicht mal Absicht. Erst hatte ich kein Rot mehr benutzt, dann verging mir die Lust auf Gelb, Grün, Blau. Irgendwann ließ ich auch die Schatten weg. Bei Fotos fiel das nicht auf, bei farbigen Illustrationen nahm ich inzwischen den Computer zu Hilfe.
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