Um zu zeigen, wie tief die Krise reicht, wie groß Ungewißheit und Bestürzung in der »kritischen Phase« sind, kann man eine Gegenüberstellung vornehmen. Stilübung? Ja, aber mehr als das. Hier einige Argumente für und gegen die Straße, für und gegen das Monument. Das Für und Wider der Natur, das Für und Wider der Stadt, das Für und Wider der Verstädterung, für das Für und Wider des Stadtkerns ... das sind Argumentationen, die wir auf später verschieben wollen. Für die Straße . Sie ist nicht nur Durchgangs- und Verkehrsplatz. Die Invasion durch das Auto, der Druck der Autoindustrie bzw. des Lobby, haben den Wagen zum Schlüsselobjekt werden lassen; wir sind besessen vom Parkproblem, hinter Fragen des Verkehrs hat alles zurückzustehen; soziales und städtisches Leben werden von alldem zerstört. Der Tag rückt näher, da man die Rechte und die Macht des Autos wird einschränken müssen, was nicht ohne Mühe und Scherben abgehen wird. Die Straße? Sie ist der Ort der Begegnung, ohne den es kein Zusammentreffen an anderen dafür bestimmten Orten (Cafés, Theater, andere Versammlungsorte) gibt. Diese privilegierten Örtlichkeiten beleben die Straße und werden von ihr belebt, sonst könnten sie nicht existieren. Auf der Straße, der Bühne des Augenblicks, bin ich Schauspiel und Zuschauer zugleich, zuweilen auch Akteur. Hier ist Bewegung; die Straße ist der Schmelztiegel, der das Stadtleben erst schafft und ohne den nichts wäre als Trennung, gewollte und erstarrte Isolierung. Schaffte man (nach Le Corbusier und seinen »nouveaux ensembles«) die Straße ab, so wären die Konsequenzen: Erlöschen jedes Lebens, die »Stadt« wird zur Schlafstätte, das Leben zur unsinnigen Funktionserfüllung. Die Straße hat Funktionen, die Le Corbusier außer acht ließ: sie dient der Information, ist Symbol und ist zum Spiel notwendig. Auf der Straße spielt man, lernt man. Die Straße ist Unordnung. Sicher. Alle Bestandteile städtischen Lebens, die an anderer Stelle in eine starre, redundante Ordnung gepreßt sind, machen sich frei, ergießen sich auf die Straße, und von dort aus in die Zentren; hier, ihren festen Gehäusen entrissen, begegnen sie sich. Diese Unordnung lebt, sie informiert, sie überrascht. Zudem schafft die Unordnung eine höhere Ordnung. Die Arbeiten von Jane Jacob haben gezeigt, daß in den Vereinigten Staaten die Straße (flutend, belebt) der einzige Ort ist, wo der einzelne vor Kriminalität und Gewalt sicher ist (Diebstahl, Vergewaltigung, Aggression). Wo die Straße verschwindet, nimmt die Kriminalität zu und organisiert sich. Auf der Straße und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen , setzt eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um. Damit wird offensichtlich, daß Gebrauch und Gebrauchswert wichtiger sein können als Austausch und Austauschwert. Revolutionen gehen normalerweise auf der Straße vor sich. Zeigt das nicht, daß ihre Unordnung eine neue Ordnung hervorbringt? Ist nicht der Raum, den die Straße im Stadtgeschehen einnimmt, der Ort des Wortes, der Ort, an dem Worte und Zeichen ebenso wie Dinge getauscht werden? Ist sie nicht der bevorzugte Ort zur Niederschrift des Wortes? Wo es »ausbrechen« und sich unter Umgehung von Vorschriften und Institutionen auf den Mauern niederschreiben kann?
Gegen die Straße . Ort der Begegnung? Vielleicht. Aber Begegnungen welcher Art? Oberflächlicher. Man streift sich auf der Straße, aber man begegnet sich nicht. Das »man« überwiegt. Auf der Straße kann sich keine Gruppe bilden, kein Subjekt entsteht; sie ist bevölkert von allen möglichen Leuten auf der Suche. Wonach? Auf der Straße entfaltet sich die Ware: Hier ist ihre Welt. Die Ware, die keine Bleibe an einem eigens für sie bestimmten Ort gefunden hat (Platz, Halle), hat sich über die ganze Straße ausgebreitet. Im Altertum war die Straße nichts als ein Anhängsel von Orten mit besonderen Privilegien: Tempel, Stadion, Agora, Garten. Später, im Mittelalter, besetzte das Handwerk die Straße. Der Handwerker war Produzent und Verkäufer zugleich. Dann wurde der Händler, der nichts als Händler ist, Herr der Straße. Die Straße? Eine Auslage, ein schmaler Gang zwischen den Läden. Die Ware, zum Schauspiel geworden (provozierend, lokkend), läßt den Menschen zum Schauspiel für den Menschen werden. Mehr als anderswo sind hier Austausch und Austauschwert wichtiger als der Gebrauch, dessen Bedeutung auf einen Rest zusammengeschrumpft ist. So sehr trifft das zu, daß die Kritik an der Straße noch weiter gehen muß: Die Straße wird zum bevorzugten Ort einer Unterdrückung, die durch den »realen« Charakter der sich hier bildenden Beziehungen (dadurch also, daß diese schwach sind, entfremden und entfremdet sind) bedingt wird. Durch die Straße, den Raum der Kommunikation, zu gehen , ist ebenso Gebot wie Verbot . Sobald Gefahr droht, ergeht das Verbot, sich auf der Straße aufzuhalten und zu versammeln. Wenn die Straße den Sinn hatte, die Begegnung zu ermöglichen, dann hat sie ihn verloren; sie mußte ihn verlieren, indem sie sich im Rahmen einer notwendigen Reduktion darauf beschränkte, nur Durchgangsort zu sein, sich aufspaltend in Passagen für Fußgänger (gehetzt) und Autos (begünstigt). Die Straße hat sich zum organisierten Netz des Konsums durch/für den Konsum gewandelt. Der (noch geduldete) Fußgänger bewegt sich eben so schnell – seine Geschwindigkeit wird so bemessen –, daß er Schaufenster betrachten und ausgestellte Gegenstände kaufen kann. Die Zeit wird zur »Waren-Zeit« (Kauf- und Verkaufszeit, gekaufte und verkaufte Zeit). Die Straße regelt die Zeit jenseits der Arbeitszeit. Sie unterwirft sie demselben System – dem von Leistung und Profit. Sie ist nur mehr obligatorischer Übergang zwischen Zwangsarbeit, programmierter Freizeit und Wohnraum, der ebenfalls Konsumort ist. Die neokapitalistische Konsum-Organisation demonstriert auf der Straße ihre Herrschaft, die nicht auf politischer Macht, noch auf Unterdrückung allein (offen oder versteckt) beruht. Die Straße, ein Aufeinanderfolgen von Schaufenstern, von zum Verkauf ausgestellten Dingen, zeigt, wie zur Logik der Ware eine (passive) Betrachtungsweise hinzukommt, die Charakter und Bedeutung einer Ästhetik und einer Ethik annimmt. Die Anhäufung von Gegenständen begleitet die Anhäufung von Menschen, die wiederum Folge der Anhäufung von Kapital ist. Sie wandelt sich zur Ideologie, die nach außen hin die Züge des Sichtbaren und des Lesbaren trägt und in Zukunft als Beweis gilt. Man kann deshalb von einer Kolonisierung des städtischen Raumes sprechen, auf der Straße bewirkt durch das Bild, die Werbung, das Schauspiel der Dinge: durch das »System der Dinge«, die zu Symbolen und Schauspiel wurden. Die Vereinheitlichung des Rahmens – sie ist in der Modernisierung alter Straßen sichtbar – führt dazu, daß nur die Dinge (Waren) Farben und Formen besitzen und somit verlockend wirken. Und wenn die Behörde Prozessionen, Maskeraden, Bälle und folkloristische Feste genehmigt, dann wirkt die Besitzergreifung und Wiederinbesitznahme der Straße durch den Menschen wie eine Karikatur. Eine echte Inbesitznahme – die »Demonstration« – wird von den Kräften der Unterdrückung bekämpft, die Schweigen und Vergessen gebieten.
Gegen das Monument . Das Monument ist seinem Wesen nach repressiv. Es ist Sitz einer Institution (Kirche, Staat, Universität). Wenn es um sich her um einen Raum organisiert, dann, um ihn zu kolonisieren, zu unterdrücken. Alle großen Monumente wurden zum Ruhme von Eroberern, zu Ehren der Mächtigen errichtet. Seltener zu Ehren von Toten oder der toten Schönheit (das Tadsch Mahal ...). Sie waren Paläste und Grabmäler. Es war das Unglück der Architektur, daß sie Monumente erstellen wollte, und daß Behausungen entweder Monumenten nachgebildet oder aber vernachlässigt wurden. Versucht man aber, Behausungen zu Monumenten zu machen, dann ist das immer eine Katastrophe, die allerdings die Betroffenen nicht erkennen. Die Pracht des Monumentes ist ja eine formale. Und da ein Monument stets überaus symbolträchtig ist, bietet es diese Symbole dem sozialen Bewußtsein und der (passiven) Betrachtung an, und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie nicht nur bereits überholt sind, sondern ihren Sinngehalt verloren haben. Man denke nur an die Revolutionssymbole auf Napoleons Arc de Triomphe.
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