Henri Lefebvre - Die Revolution der Städte

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Die Bedeutung Henri Lefebvre verdankte sich einer spezifischen historischen Konstellation: In den sechziger Jahren galt der französische Philosoph im deutschsprachigen Raum zunächst als Kritiker eines rigiden Parteikommunismus. Sein Rückgriff auf die Frühschriften von Marx machte ihn anschlussfähig an eine «humanistische» Kapitalismus- und Kulturkritik, der es vor allem um die Entfremdungsproblematik ging. Vertraut mit den Thesen der Kritischen Theorie zur Kulturindustrie, ergaben sich für viele Intellektuelle Anschlussmöglichkeiten an die Reflexionen von Lefèbvre. Seine Wiederentdeckung erfolgte im Kontext des «spatial turn» und dem damit verbundenen verstärktem Interesse an räumlichen Fragestellungen. Unter Ausblendung seiner revolutionstheoretischen Ambitionen gilt Henri Lefèbvre als Vordenker einer Raumvorstellung, die zum festen Bestandteil des sozialwissenschaftlichen Wissens gehört.

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Zu einem bestimmten Zeitpunkt tritt im europäischen Abendland ein »Ereignis« ein, das bei aller ungeheuren Tragweite dennoch verborgen und nahezu unbemerkt bleibt. Innerhalb der gesamten sozialen Ordnung gewinnt die Stadt dermaßen an Gewicht, daß eben diese Ordnung aus den Fugen gerät. Immer noch maß man bei der Stadt-Land-Beziehung letzterem die größere Bedeutung zu: dem Land mit seinem Reichtum an Grundbesitz, den Bodenerzeugnissen, den bodenständigen Menschen (Lehensleute oder Träger von Adelstiteln). Immer noch wurde die Stadt in ihrer Beziehung zum Land als Fremdkörper angesehen, was durch die Wälle wie durch die einen Übergang bildenden Vororte zum Ausdruck kam. Irgendwann jedoch verkehren sich die vielschichtigen Beziehungen ins Gegenteil, die Situation kehrt sich um. Auf der Achse muß der bedeutsame Moment dieser Rückkehr, der Umkehrung, der Heterotopie angezeigt werden. Von jetzt an erscheint die Stadt weder sich noch der Umwelt als städtische Insel in einem Ozean aus Land; verglichen mit der dörflichen oder ländlichen Natur erscheint sie sich nicht mehr als etwas Paradoxes, als Ungeheuer, Himmel oder Hölle. Sie geht in Bewußtsein und Wissen als gleichwertiges Element des Gegensatzes »Stadt – Land« ein. Das Land? Es ist nun nichts – oder nichts mehr – als die »Umgebung« der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze. Der Dorfbewohner? Er hört in seinen eigenen Augen auf, für den Grundherrn zu arbeiten. Er produziert für die Stadt, für den städtischen Markt. Wenn er auch weiß, daß der Korn- und der Holzhändler ihn ausbeuten, so findet er doch dort, auf dem Markt, den Weg in die Freiheit.

Was geht nun zu diesem kritischen Zeitpunkt vor sich? Der denkende Mensch sieht sich nicht mehr als Teil der Natur, einer düsteren Welt, geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. Zwischen ihm und der Natur, zwischen seinem Zentrum und Mittelpunkt (dem des Denkens, des Seins) und der Welt steht nun ein wichtiger Vermittler: die Wirklichkeit der Stadt. Von diesem Augenblick an sind Gesellschaft und Land nicht mehr eins. Auch politische Stadt und Gesellschaft bilden keine Einheit mehr. Der Staat wächst über sie hinaus, nimmt in seiner Hegemonie von ihnen Besitz und nützt die Rivalität beider aus. Dennoch erkennt der Mensch der damaligen Zeit die sich ankündigende Majestät nicht. Die VERNUNFT, wer wird sie für sich in Anspruch nehmen dürfen? Das Königtum? Der Herr des Himmels? Das Individuum? Was sich wirklich wandelt, das ist – nach dem Niedergang Athens und Roms, nachdem deren wichtigste Werke, die Logik und das Recht, in Nacht versanken – die Vernunft der politischen Stadt. Eine Wiedergeburt des Logos findet statt, aber man schreibt sie nicht dem Wiedererstehen des Stadtwesens zu, sondern einer transzendenten Ursache. Der Rationalismus, der seinen Höhepunkt mit Descartes erreicht, begleitet diese Umkehrung der Dinge, bei der das Städtische dem Dörflich-Ländlichen den Rang abläuft. Aber die Stadt erkennt ihre neue Vorrangstellung nicht. Dennoch entsteht um diese Zeit das Bild der Stadt . Schon besaß die Stadt die Schreibkunst mit ihren Geheimnissen und ihrer Macht. Schon stellte sie städtisches (gebildetes) Wesen gegen bäuerlich-ländliches (einfältig und roh). Von einem gewissen Zeitpunkt an besitzt sie ihre eigene Schrift: den Plan . Darunter ist nicht die Planung zu verstehen, auch wenn sich erste Anfänge von Planung schon abzeichnen, sondern die Planimetrie .

Im 16. und 17. Jahrhundert, als dieser Bedeutungswandel vor sich geht, erscheinen in Europa Stadtpläne, erscheinen vor allem die ersten Pläne von Paris. Noch sind sie nicht abstrakte Pläne, nicht Projektionen des Stadtraumes in ein geometrisches Koordinatensystem. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Vorstellung und Wahrnehmung, aus Kunst und Wissenschaft, zeigen die Stadt von oben und aus der Ferne gesehen, perspektivisch, als Gemälde und gleichzeitig als geometrische Darstellung. Der idealistische und zugleich realistische Blick, der Blick des Geistes, der Macht, richtet sich auf die Vertikale, in den Bereich der Erkenntnis und der Vernunft, beherrscht und schafft so ein Ganzes: die Stadt. Diese Umkehrung der Gesellschaftsordnung, diese Verlegung des sozialen Geschehens in den Bereich des Städtischen, diese (relative) Diskontinuität läßt sich ohne weiteres auf der Raum-Zeit-Achse darstellen, auf der sich – da sie kontinuierlich verläuft – (relative) Zäsuren unschwer aufzeigen lassen. Es genügt, die Achse zwischen der Anfangsnull und der Endzahl (in der Hypothese ist das 100) durch eine Gerade zu halbieren. Der Bedeutungswandel ist untrennbar mit dem Wachstum des Handelskapitals, der Existenz eines Marktes verbunden. Es ist die Handelsstadt, der politischen Stadt aufgepfropft, aber ihren aufsteigenden Weg verfolgend, die das erklärt. Sie geht um ein weniges dem Auftauchen des Industriekapitals voran und infolgedessen der Industriestadt . Beide erscheinen kurz vor dem Auftreten des Industriekapitals und somit der Industriestadt . Zu diesem Begriff sind einige Anmerkungen notwendig. Ist die Industriestadt mit der Stadt verbunden? Eigentlich steht sie ja mit der Nicht-Stadt in Zusammenhang, mit dem Nichtvorhandensein der Stadt oder dem Bruch in der städtischen Wirklichkeit. Man weiß, daß Industrien ursprünglich da entstehen, wo Energiequellen (Kohle, Wasser), Rohstoffe (Metalle, Faserstoffe), Arbeitskräfte vorhanden sind. Wenn sie in die Umgebung der Stadt ziehen, so dann, um in die Nähe des Kapitals und der Kapitalisten, des Marktes, reichlicherer und billigerer Arbeitskräfte zu gelangen. Somit spielt es keine Rolle, wo die Industrie sich niederläßt: früher oder später greift sie auf bereits vorhandene Städte über oder schafft neue. Sie verläßt den jeweiligen Standort wieder, sobald dies im Interesse des betreffenden Industriebetriebs liegt. Ebenso wie sich die politische Stadt lange der halb friedlichen, halb gewaltsamen Eroberung durch die Händler, den Austausch und das Geld widersetzte, ebenso wehren sich die politische und die Handelsstadt gegen die sich bildende Industrie, das Industriekapital und den Kapitalismus überhaupt. Mit welchen Mitteln? Mit Hilfe des Korporativismus, der Festlegung der gegenseitigen Beziehungen. Die historische Kontinuität und der Evolutionismus verdecken die Auswirkungen dieser Mittel und die durch sie verursachten Brüche. Welch sonderbare und bemerkenswerte Bewegung ist es, die hier das dialektische Denken erneuert: Die Nicht-Stadt und die Anti-Stadt erobern die Stadt, durchdringen sie und führen – indem sie sie sprengen und ins Maßlose aufblähen – letztlich zur vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft, wobei das Stadtgewebe die Reste der vor der Industrie bestehenden Stadt überdeckt. Daß eine so außergewöhnliche Bewegung so unbeachtet bleibt und nur bruchstückartig beschrieben ist, geht auf das Bestreben der Ideologen zurück, auf dialektisches Denken und die Analyse von Widersprüchen zu verzichten und sich ausschließlich dem logischen Denken zuzuwenden. Das heißt, man stellt Zusammenhänge fest und sonst nichts. Die urbane Realität, die an Umfang gewonnen hat und jeden Rahmen sprengt, verliert in dieser Bewegung die ihr in der vorausgegangenen Epoche zugeschriebenen Eigenschaften: organisches Ganzes, Zugehörigkeit, begeisterndes Bild, ein von glanzvollen Bauwerken abgemessener und beherrschter Raum zu sein. Inmitten der Auflösung städtischen Wesens treten Zeichen des Urbanismus auf. Die städtische Wirklichkeit wird Befehl, unterdrückende Ordnung, Markierung durch Signale, wird summarische Verkehrsordnung und Verkehrszeichen. Bald wirkt sie wie ein Entwurf ins Unreine, bald wie eine autoritäre Botschaft. Sie setzt sich mehr oder weniger gebieterisch durch. Kein beschreibender Ausdruck erfaßt den historischen Prozeß in seiner Gänze: Implosion – Explosion (eine Metapher, aus der Atomphysik), also ungeheure Konzentration (von Menschen, Tätigkeiten, Reichtümern, von Dingen und Gegenständen, Geräten, Mitteln und Gedanken) in der städtischen Wirklichkeit, und ungeheueres Auseinanderbersten, Ausstreuung zahlloser und zusammenhangloser Fragmente (Randgebiete, Vororte, Zweitwohnungen, Satellitenstädte usw.).

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