Die Industriestadt , häufig eine formlose Stadt, eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften – wie etwa im Ruhrgebiet – geht dieser kritischen Zone voraus und kündigt sie an. An diesem Punkt zeigen sich sämtliche Auswirkungen der Implosion – Explosion. Das Wachstum der Industrieproduktion überlagert die Zunahme der Handelsbeziehungen, vervielfacht sie. Dieses Wachstum umfaßt den Tauschhandel ebenso wie den Weltmarkt, reicht vom einfachen Handel zwischen zwei Personen bis zum Austausch von Erzeugnissen, von Werken, von Gedanken und menschlichen Wesen. Kauf und Verkauf, Ware und Markt, Geld und Kapital scheinen alle Hindernisse hinwegzufegen. Während der Prozeß alles erfaßt, wird seine Auswirkung – die städtische Wirklichkeit nämlich – ihrerseits Ursache und Sinn. Das Induzierte wird beherrschend (induziert selbst). Die urbane Problematik erfaßt die gesamte Erde. Läßt sich die städtische Wirklichkeit als Überbau verstehen, der dachähnlich das wirtschaftliche, kapitalistische oder sozialistische Gefüge überdeckt? Oder einfach als Resultat des Wachstums und der Produktivkräfte? Als bescheidene Wirklichkeit, als Randerscheinung der Produktion? Nein. Die Wirklichkeit der Stadt ändert die Produktionsverhältnisse, ohne jedoch einen echten Wandel herbeiführen zu können. Sie wird, gleich der Wissenschaft, zur Produktivkraft. Raum und Raumpolitik sind »Ausdruck« der Gesellschaftsbeziehungen und wirken sich auf sie aus. Selbstverständlich findet die städtische Wirklichkeit, die zum beherrschenden Element wird, erst durch die Problematik der Verstädterung ihren Ausdruck. Was tun? Wie sollen die Städte oder das »Etwas«, das an die Stelle der einstigen Stadt treten könnte, aussehen? Wie muß das Phänomen der Verstädterung verstanden werden? Wie soll es formuliert, klassifiziert werden, in welcher Reihenfolge sollen die zahllosen Probleme gelöst werden, denen nur unter Schwierigkeiten und nicht ohne allseitige Widerstände vorrangige Bedeutung zugestanden wird? Welche entscheidenden Fortschritte müssen in Theorie und Praxis gemacht werden, damit man sich dieser Wirklichkeit und ihrer Möglichkeiten bewußt werde?
Folgendermaßen läßt sich die Achse abstecken, die den Prozeß bildlich darstellt:
Politische Stadt |
Handelsstadt |
Industriestadt |
Kritische Zone |
Die Agrargesellschaft wird zur Stadtgesellschaft
Implosion – Explosion
(Ballung in den Städten, Landfludit, Ausdehnung des Stadtgewebes, vollständige Unterordnung des Agrarsektors unter den städtischen Sektor.)
Was geht in der kritischen Phase vor sich? Das vorliegende Werk bemüht sich um eine Antwort auf diese Frage, die die Problematik der Verstädterung als Teil eines allgemeinen Prozesses sieht. Werden die theoretischen Hypothesen, welche die Zeichnung einer Achse, die Darstellung eines in eine bestimmte Richtung gehenden Zeitablaufes ermöglichen, das Über-sie-hinaus-gelangen durch das Denken, werden sie uns zu einem Verständnis des Geschehens verhelfen? Vielleicht. Schon jetzt können wir einige Vermutungen aufstellen. Offenbar läuft ein zweiter Kippvorgang ab – man beweise uns denn das Gegenteil. Zum zweiten Mal werden Bedeutung und Situation auf den Kopf gestellt. Die Industrialisierung, die herrschende und zwingende Macht wandelt sich im Verlauf einer tiefreichenden Krise zur beherrschten Wirklichkeit, und zwar auf Kosten einer ungeheuren Verwirrung, die Vergangenes und Mögliches, Gutes und Schlechtes ineinander verflicht.
Bei der theoretischen Hypothese über das Mögliche und seine Beziehung zum Tatsächlichen (dem »Wirklichen«) darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Eintritt in eine verstädterte Gesellschaft, die Art und Weise der Urbanisierung, vom Charakter der jeweiligen industrialisierten Gesellschaft abhängig sind (neo-kapitalistisch oder sozialistisch, mitten im Wirtschaftswachstum begriffen oder bereits hochtechnisiert). Die unterschiedlichen Übergänge in die verstädterte Gesellschaft, die Implikationen und die Folgen der anfänglichen Unterschiede, sind Teil der durch das Phänomen der Verstädterung oder die »Verstädterung« aufgeworfenen Problematik. Die genannten Ausdrücke sind dem Wort »Stadt« vorzuziehen, weil darunter eher ein definiertes und bestimmtes Objekt zu verstehen ist, ein gegebenes wissenschaftliches Objekt und ein unmittelbares Aktionsziel, wogegen ein theoretisches Vorgehen in erster Linie eine Kritik dieses »Objektes« und einen komplexeren Begriff eines möglichen und denkbaren Objektes erforderlich macht. In anderen Worten: Aus dieser Sicht gibt es keine Wissenschaft von der Stadt (Stadtsoziologie oder Stadtökonomie usw.), sondern eine sich abzeichnende Kenntnis des globalen Prozesses und seines Endes (Ziel und Sinn).
Das Urbane (Abkürzung für »verstädterte Gesellschaft«) wird nicht als eine erreichte Wirklichkeit definiert, in der Zeit vor dem Jetzt schon vorhanden, sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität. Sie ist das Mögliche , definiert durch eine Richtung am Ende eines Weges, der zu ihm hinführt. Um es zu erreichen, es zu verwirklichen, müssen vorab die Hindernisse umgangen oder beseitigt werden, die es im Augenblick noch unmöglich machen. Kann die theoretische Erkenntnis dieses mögliche Objekt, das Aktionsziel, im Bereich des Abstrakten belassen? Nein. Schon jetzt ist es abstrakt nur im Sinne der legitimen wissenschaftlichen Abstraktion . Die theoretische Erkenntnis kann und muß das Terrain und die Basis aufzeigen, auf denen sie beruht: ein soziales Geschehen, das noch im Fluß ist, eine urbane Praxis , die trotz aller Hindernisse im Entstehen ist. Daß diese Praxis im Augenblick verschleiert und zusammenhanglos erscheint, daß die zukünftige Wirklichkeit und die zukünftige Wissenschaft nur bruchstückartig existieren, ist nur ein Aspekt der kritischen Phase. Wenn die jetzige Orientierung auf ein Ziel zustrebt, wenn es für die heutige Problematik Lösungen gibt – sie müssen wir aufzeigen. Summa summarum: Das virtuelle Objekt ist nichts anderes als eine die ganze Erde umfassende Gesellschaft und die »Welt-Stadt«, jenseits einer weltweiten Krise der Wirklichkeit und des Geistes, jenseits der einst unter der Herrschaft des Ackerbaus entstandenen und im Verlauf der Ausweitung von Handel und Industrieproduktion beibehaltenen Grenzen. Nicht alle Probleme sind jedoch Probleme der Verstädterung. Landwirtschaft und Industrie behalten eine eigene Problematik, selbst wenn die Realität der Stadt sie modifiziert. Überdies ist es angesichts der Problematik der Verstädterung dem Denken nicht möglich, sich vorbehaltlos in die Erforschung des Möglichen zu stürzen. Der Analytiker wird die einzelnen Verstädterungstypen erkennen und beschreiben müssen. Er wird sagen müssen, was aus all den Formen, Funktionen, den städtischen Strukturen werden wird, die durch die Explosion der einstigen Stadt und die alles umfassende Verstädterung umgewandelt werden. Bislang ähnelt die kritische Phase einer »black box«. Man kennt den Input, manchmal kann man den Output wahrnehmen. Man weiß nicht recht, was drinnen vor sich geht. Damit werden die üblichen Verfahren der Zukunftsforschung oder der Projektion ausgeschlossen, bei denen von der Gegenwart, also von dem Festgestellten aus, extrapoliert wird. Für Projektion und Voraussage gibt es nur in einer Teilwissenschaft eine Basis: in der Demographie z. B. oder in der politischen Ökonomie. Was jedoch hier »objektiv« zur Debatte steht, ist eine Totalität.
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